Das Kind
Dr. Tiefensee?«
»Ja.«
»Von Carina?«
»Ja.«
»Du wurdest hypnotisiert?«
»Ich weiß nicht. Ich glaub, ich bin vorher eingeschlafen.« »Woher weißt du das?«
»Von Carina und dem Doktor. Aber Sie können es selbst überprüfen.«
»Wie denn das?« Laura sah jetzt ebenso verdutzt aus wie Kommissar Brandmann. Mit dieser Antwort hatten sie nicht gerechnet.
»Dr. Tiefensee hat die ganze Sitzung auf Video aufgenommen. Sie können es sich ansehen.«
»Okay, danke für den Hinweis. Was geschah, als du wieder aufgewacht bist?«
»Ich hatte diese Erinnerung in meinem Kopf.« »Welche?«
»Von der Leiche. In dem Keller.«
»Hast du vorher schon einmal diese Erinnerung gehabt?« »Nein.«
»Hat irgendjemand mal dir gegenüber den Namen ›Harald Zucker‹ erwähnt?«
»Nein.«
»Wer hat dir gesagt, du sollst zu der Fabrik gehen?« »Niemand. Ich habe Carina gefragt, ob sie mir einen Anwalt besorgen kann.«
Müller sah kurz zu Brandmann, der kaum seinen Blick vom
Monitor reißen konnte. Bislang hatte es nicht den geringsten Ausschlag gegeben.
»Warum wolltest du denn einen Anwalt?«
»Ich will zur Polizei gehen. Ich hab ja etwas Böses getan. Das muss ich doch jemand sagen. Aber in den Filmen fragen sie immer zuerst nach einem Anwalt.«
»Gut, wir sind gleich durch. Jetzt kommt meine wichtigste Frage, Simon: Hast du einen Menschen ermordet?« »Ja.«
»Wann war das?«
»Einen vor fünfzehn Jahren, den anderen drei Jahre später.« Müller trat einen Schritt näher an den Bildschirm heran, als wäre er plötzlich kurzsichtig geworden.
»Simon: Ich bitte dich jetzt, an alle Personen zu denken, mit denen du in den letzten Wochen und Monaten geredet hast. Egal ob hier im Krankenhaus oder außerhalb. Denk an Robert Stern, an Carina Freitag, Dr. Tiefensee, deine Ärzte, egal wen. Gab es irgendjemanden, der dir gesagt hat, dass du uns diese Geschichte erzählen sollst?«
»Nein. Ich weiß, Sie denken, ich schwindle.« Simon klang jetzt sehr müde und wirkte dadurch eher traurig als entrüstet. »Dass ich mich wichtig machen will oder so. Dass ich nur das nachplappere, was ein anderer mir vorsagt.« Laura und Brandmann ertappten sich gegenseitig beim Nicken.
»Aber das ist nicht der Fall«, fuhr Simon fort. Seine Stimme wurde immer lauter. » Ich war es. Ich habe getötet. Zum ersten Mal vor fünfzehn Jahren. Den ersten Mann habe ich mit der Axt getötet und den anderen erstickt. Und dann gab es noch ein paar andere, aber ich bin mir nicht mehr sicher, wie viele.«
Laura drehte sich zu Brandmann und Müller um und schüt telte fassungslos den Kopf.
Das, was sich da gerade auf ihrem Monitor abspielte, war einfach unbegreifl ich.
12.
E ine unverschlossene Haustür ist in Berlin nichts Unge wöhnliches, wenn sie zu einer medizinischen Praxis gehört. Ein unbesetzter Empfang und ein leeres Wartezimmer dahinter hingegen schon. Stern musste seinen angeborenen Selbsterhaltungstrieb unterdrücken, als er die Behandlungsräume betrat und dabei laut den Namen des Psychiaters rief.
»Hallo? Doktor Tiefensee? Sind Sie da?«
Schon das gläserne, sanft illuminierte Praxisschild am Eingang entsprach nicht dem üblichen Standard, mit dem Heilberufene ansonsten auf sich aufmerksam machten. Auch die gemütliche Inneneinrichtung unterschied sich deutlich von allen anderen Arztpraxen, die Stern bislang aufgesucht hatte. Das begann schon mit dem Besucherbereich, in dem die Patienten es sich auf Ohrensesseln im englischen Landhausstil bequem machen konnten.
Stern griff zu seinem Handy und wählte die Nummer, die ihm die Auskunft durchgegeben hatte. Wenige Sekunden später schwoll aus einem der hinteren Zimmer ein Klingelton an. Er ließ es zehnmal läuten, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete. Jetzt hörte Stern die tiefe Stimme des Psychiaters gleichzeitig aus seinem Telefon und leicht zeit versetzt etwa zwanzig Schritte von sich entfernt. Auf der Hälfte der Strecke machte der Flur einen Knick und bog schräg nach links ab. Stern folgte dem Gang um die Ecke, und Tiefensees Bandansage wurde lauter. Gerade gab der Arzt seine Sprechzeiten durch. Heute war Samstag. Termine nur nach Vereinbarung.
Vielleicht ist er gerade in einer Sitzung? Lässt er es deshalb
läuten?
Stern klopfte an die erste verschlossene Tür, hinter der er den mittlerweile wieder verstummten Anrufbeantworter ver mutete. Als sich niemand meldete, trat er ein und erkannte den Raum, den Simon heute Morgen beschrieben hatte. Auf dem Boden lag die hellblaue Sportmatte. Alles
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