Das Kind
Da niemand antwortete, vermutete Simon, dass Stern den Kopf geschüttelt hatte.
»Er lebt in Indien, in der Stadt Jalandhar. Der Fall ist wirklich passiert, darüber lief kürzlich eine Reportage. Reinkarnation
ist ein fester Bestandteil im Hinduismus. Die Hindu gehen davon aus, dass jeder Mensch eine unsterbliche Seele be sitzt, die nach dem Tode in einen anderen Körper übergeht, manchmal sogar in den eines Tieres oder in eine Pfl anze.« »Ich fass es nicht, dass mich das jetzt wirklich interessiert«, fl üsterte Stern mehr zu sich selbst und so leise, dass Simon ihn kaum verstehen konnte.
»Taranjit ist nur einer von zahlreichen gut dokumentierten Wiedergeburtsfällen in Indien. Ein anerkannter Forscher, Ian Stevenson, hat in seinem Leben dort über dreitausend Kinder befragt.«
Stern grunzte zustimmend.
»Von dem hab ich schon mal gehört.«
»Was war denn nun mit diesem Tanjuk?«, fragte Borchert. »Taranjit«, korrigierte Carina. »Der Junge behauptete, er sei die Wiedergeburt eines Kindes aus dem Nachbardorf, das 1992 bei einem Autounfall ums Leben kam. Er konnte sich an unglaubliche Einzelheiten erinnern, obwohl er noch niemals sein Dorf verlassen hatte.«
»Dann hat er halt mal eine Unterhaltung seiner Eltern über das Unglück aufgeschnappt. Oder in der Zeitung davon gelesen.«
»Ja, das sind die gängigen Erklärungsversuche, aber jetzt kommt’s.«
Simon konnte spüren, wie Carinas Herz schneller schlug. »Ein in Indien sehr bekannter Kriminologe, Raj Singh Chauhan, wollte einen objektiven Beweis. Also was machte er?« »Einen Lügendetektortest wie bei Simon?« »Besser. Der Mann ist ein Experte auf dem Gebiet der forensischen Handschriftenanalyse. Er verglich die Handschrift von Taranjit mit der des verstorbenen Jungen.« »Ach komm …«
»Doch. Es ist wahr. Die Handschriften waren identisch. Und jetzt erklär mir das bitte mal!«
Simon bekam die Antwort von Robert nicht mehr mit. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, wenigstens noch eine Minute wach zu bleiben, konnte er nicht länger gegen den Schlaf ankämpfen. Er hörte nur noch den Namen Felix und dass von einer Stimme auf einer DVD die Rede war, dann zog es ihn endgültig fort. Sein verstörender Traum begann wie immer. Nur die Tür ging heute etwas leichter auf. Und es fi el ihm auch nicht mehr so schwer wie beim ersten Mal, die Treppe hinabzusteigen, die in den dunklen Keller führte.
17.
D urch den plötzlichen Ruck, der ihn nach vorne riss,
wachte Simon wieder auf.
»Kannst du nicht aufpassen?«, schimpfte Carina. Ihre Stimme klang dabei etwas nasal. So, als hätte sie schon wieder Tränen vergossen.
»Sorry, ich dachte, die Ampel hätte einen grünen Pfeil«, grummelte Borchert. Wenig später spürte Simon, wie die Fliehkräfte seinen Kopf noch fester gegen Carinas Brust pressten. Hinter der Kurve begann es zu rumpeln. Demnach mussten sie jetzt über Kopfsteinpfl aster fahren. »Du weißt, warum du diesen Film gestern bekommen hast, Robert?«
Simon unterdrückte ein Gähnen. Er hatte keine Ahnung,
worüber sie jetzt sprachen.
»Damit ich die Drecksarbeit für die Schweine mache. Ich soll den Mörder fi nden.«
»Quatsch«, protestierte Carina. »Wer in der Lage ist, ein solches Videoband zusammenzustellen, mit Bildmaterial, das über zehn Jahre alt ist, der ist wohl kaum auf die Hilfe eines zufällig dahergelaufenen Strafverteidigers angewiesen.«
»Da hat die Lady recht«, stimmte Borchert zu. »Worum geht es denn dann, eurer Meinung nach?« »Wenn jemand noch so viele Jahre später einen solchen Aufwand betreibt, dann kommen nur zwei Sachen in Betracht: Geld oder Geld.«
»Sehr witzig, Andi. Hast du noch eine etwas konkretere Theorie?«
»Ja, wie wär’s damit: Simon sagte doch, die Jungs waren böse. Also Verbrecher. Vielleicht gehörten sie zusammen. Eine Bande, eine Gang, was weiß ich. Ich denke, sie haben bei einem Drogendeal einen fetten Gewinn gemacht, und einer wollte nicht teilen. Der Typ hat alle anderen kaltgemacht. Bis auf einen.«
»Die Stimme auf der DVD«, sagte Stern.
»Genau. Die sucht jetzt den Mörder, um an ihren Anteil zu kommen.«
»Möglich. Klingt sogar plausibel. Aber wie kann Simon davon wissen, wenn ihr seine Wiedergeburt ablehnt? Und wer ist der Junge mit dem Feuermal?«, meldete sich Carina zu Wort. »Darauf haben wir keine Antworten. Sicher ist nur eins, Robert. Du wirst benutzt. Bleibt die Frage: Wozu?« »Okay, Mädels.« Borchert trat in die Bremsen. »Wir sind da!«
Simon blinzelte. Zuerst
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