Das Kind
Pfarrers, den er aufgeschnappt hatte. »Völlig bekloppt. Einen echten Friedhof gibt’s erst in der nächsten Stadt, aber für
Tiere haben sie ein ganzes Fußballfeld reserviert!« Die Bemerkung war zwar etwas übertrieben, denn die in Parzellen unterteilte Heidewiese maß allenfalls fünfhundert Quadratmeter. Trotzdem erschien sie für ihren Zweck erstaunlich groß. Stern konnte sich kaum vorstellen, dass es in dieser Gegend eine so heftige Nachfrage nach Tierbestattungen gab. Die Anzahl der über das Grundstück verteilten Grabsteine schien allerdings dafür zu sprechen. Sie ragten etwas ungeordnet und durch verschiedene Nadelbäume voneinander getrennt wie schiefe Zähne aus dem Boden. Stern beschloss, sich ein wenig umzusehen, bevor sie wieder zurückgingen.
»Ich warte hier«, rief ihm Borchert hinterher, der einen trockenen Fleck unter einer mächtigen Eiche gefunden hatte, den er offenbar nicht aufgeben wollte.
Vertigo, Fienchen, Mickey, Molly, Vanilla … Die Namen der
Tiere, an deren Grabsteinen er vorbeilief, waren so unterschiedlich wie ihre Gräber. Auf den meisten stand ein weißes Kreuz oder ein kleiner Granitquader mit schnörkelloser Inschrift. Einige Besitzer hatten etwas tiefer in die Tasche gegriffen und so etwas wie Grabpfl ege beauftragt. Vor »Branko« zum Beispiel lag ein frisch gefl ochtener Kranz neben zwei weißen Orchideen. Und »Cleopatra« musste tatsächlich eine Katzenkönigin gewesen sein, bevor sie vor einem halben Jahr »von einem Autofahrer ermordet« wurde. So stand es zumindest auf dem Messingschild neben dem Miniaturnachbau der Cheopspyramide, die jetzt als Grabschmuck diente.
»Das ist doch sinnlos«, hörte er Borchert rufen. »Hier gibt es keinen Lucas.«
»Woher willst du das wissen?« Stern drehte sich um. Borchert hatte einen grünen Schaukasten in der Nähe der Eiche
entdeckt und pochte mit seinem Daumen gegen die hauchdünne Glasscheibe.
»Das ist eine komplette Liste mit allen Tieren, die hier liegen. Von Abakus bis Zylie.«
Rosinengroße Tropfen klatschten Stern in unregelmäßigen Intervallen in den Nacken, und er fühlte sich wie unter einem nassen Baum, an dem jemand heftig rüttelte. »Aber kein Lucas. Lass uns abhauen. Wir können hier unmöglich das ganze Gelände umgraben, ohne dass die Mädels da hinten ausfl ippen.«
Stern sah noch einmal zu dem Pfarrer, der mit dem Rücken zu ihnen, etwa fünfzig Meter entfernt, eine letzte Ansprache hielt. Der vom Schwielowsee her auffrischende Herbstwind trug seine letzten Worte für den Hund in die entgegengesetzte Richtung.
»Okay, gehen wir«, stimmte Stern schließlich zu. Für heute ist mein Bedarf an Leichen sowieso gedeckt . Er wollte sich
nur schnell bücken, um seine Schuhspitze von einem bräunlichen Klumpen Eichenlaub zu befreien, als er plötzlich innehielt.
Hier liegt kein Lucas, waberten Borcherts letzte Worte in
seinem Kopf umher. Er schirmte seine Augen mit der fl achen Hand gegen den Regen ab und versuchte die Einzelheiten des Bildes, das er vor sich sah, in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Dabei betrachtete er seine Umgebung wie durch eine dreckverschmierte Windschutzscheibe mit alten Scheibenwischern. Je mehr er blinzelte, desto unklarer wurde das Gesamtbild.
Die kleine Gruppe mit Pfarrer. Die Cheopspyramide. Die
Orchideen.
Irgendetwas war hier falsch.
Er hatte eben etwas Bedeutendes gesehen, aber nicht richtig
eingeordnet. So wie ein wichtiger Kalendereintrag, der in der falschen Spalte steht.
»Was ist?«, fragte Borchert, der seine innere Anspannung beobachtet haben musste.
Stern hob den Zeigefi nger seiner linken Hand und zog mit der anderen sein Handy hervor. Gleichzeitig ging er wieder hinein. Zurück zu der Grabreihe des Tierfriedhofs, in der er eben schon einmal gestanden hatte.
»Schläft Simon?«, fragte er. Carina hatte noch während des ersten Klingelns abgenommen.
»Nein, aber gut, dass du anrufst.« Er überhörte die Sorge in ihrer Stimme, weil er sich selbst gerade fürchtete. Vor der Frage, die er Simon gleich stellen würde. »Gib ihn mir mal.«
»Das geht grad nicht.«
»Warum das denn?«
»Er kann jetzt nicht reden.«
Stern kniete sich vor einem der billigeren Grabsteine nieder. Ein ziehender Schmerz begann sich direkt hinter seiner Stirn zu den Augen hin auszubreiten, und er legte den Kopf in den Nacken.
»Geht es ihm nicht gut?«
»Doch. Was willst du denn von ihm wissen?« »Frag ihn bitte, was auf seinem Bild stand, das er im Krankenhaus gemalt hat. Bitte, das ist
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