Das Kind
Stattdessen wurden sie nun gemeinsam Zeugen einer quälend langsamen Kamerafahrt. Sie begann mit der Frontalansicht einer Kinderzimmertür, die wie von Geisterhand aufgestoßen wurde, und endete mit der Nahaufnahme zweier schlafender Mädchen. Frida und Natalie.
Stern hatte Sophies Kinder noch nicht oft gesehen, aber es gab für ihn keinen Zweifel, dass es sich hier um ihre Zwillinge handelte.
»Warum tun Sie das?«
»Um Ihnen zu zeigen, dass ich es kann.«
Die Botschaft war klar und deutlich. Die »Stimme« war allgegenwärtig. Sie kontrollierte jeden seiner Schritte. Und sie würde nicht vor einem Mord an zwei vierjährigen Mädchen zurückschrecken, um ihr Ziel zu erreichen. Carina hatte recht: Wer so skrupellos war und zudem über solche technischen Möglichkeiten verfügte, sollte eigentlich nicht auf seine Informantendienste angewiesen sein. Was also wollte der Killer wirklich von ihm?
Stern stellte genau diese Frage, und als Antwort zeigte der Monitor schon wieder ein verändertes Bild. Zuerst sah man nur eine graue, verwackelte Betonfl äche. Als fi lmte jemand beim Joggen den Asphalt einer Straße. Die Qualität der Aufnahme war sehr schlecht und grobkörnig, so dass Stern auch nicht viel mehr darauf ausmachen konnte, als der Zoom nun weiter aufgezogen wurde und die Kamera nach oben schwenkte.
»Das da hinten ist eine Tür«, sagte Carina zuerst. Stern und Borchert hatten sie fast in der gleichen Sekunde entdeckt. »Was soll das?«, fragte Robert in den Hörer hinein. Die Stimme lachte nur. »Erkennen Sie es denn nicht?« »Nein.« Stern wusste nicht, wozu diese billigen Amateuraufnahmen dienen sollten.
Verwaschene Bilder von jemandem, der auf eine geschlossene Tür zurannte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, bis Borchert plötzlich aufstöhnte.
»Scheiße, das gibt’s doch nicht.«
Er schlug sich mit der blanken Faust auf seinen kahlen Schädel.
»Wieso, was ist denn los?«
»Andi?«
Stern und Carina riefen durcheinander, doch Borchert ach tete nicht auf sie. Er zog die oberste Schreibtischschublade auf, dann eine zweite. Schließlich wurde er in der untersten fündig und nahm eine Neun-Millimeter-Pistole heraus. »Was ist das für eine Tür?«, brüllte Stern jetzt so laut, dass Simon sich auf dem Sofa beide Hände vor die Ohren hielt. Borchert gab keine Antwort. Er deutete nur auf einen roten Knopf im Schreibtisch, rechts neben dem Computer. Er leuchtete. An. Aus. An Aus.
»Der Personaleingang«, krächzte Borchert heiser und zeigte auf den Bildschirm. »Jemand hat gerade geklingelt.« 6.
L iebe ist …
Nur eine Grußkarte. Sonst nichts.
Als sie die Tür aufrissen und Borchert mit der entsicherten Waffe nach draußen sprang, rechnete Stern fest damit, hilfloser Zeuge einer Hinrichtung zu werden. »Der ist nicht allein. Sie werden dich töten. Du stirbst, wenn du da rausgehst!«
Borchert hatte alle seine Warnungen mit einem Blick quittiert, der Stern am Verstand seines ehemaligen Mandanten zweifeln ließ. Andi wirkte, als hätten ab sofort seine niedrigsten Instinkte die Kontrolle übernommen. Doch draußen angelangt, gab es niemanden, dem Borchert im Kampf entgegentreten konnte. Nichts außer einer lachsfarbenen laminierten Geschenkkarte im DIN-A4-Format. Stern angelte den Umschlag von der Fußmatte, während
Borchert sein aufgestautes Aggressionspotenzial mit Schreien abbaute.
»Komm her. Drecksau. Feigling. Ich mach dich platt …« Seine Stimme hallte durch den Regen über den Hinterhof bis in den Wald hinein, in den der Handlanger gerannt sein musste.
Liebe ist … – Stern klappte die Karte auf – … wenn man sich
alles sagen kann . So lautete die einfallslose vorgedruckte In schrift. Darunter war in Blockbuchstaben handschriftlich hinzugefügt: WAS GIBT ES NEUES?
»Na, gefällt Ihnen meine kleine Aufmerksamkeit?« Während sie nach unten zum Personaleingang gerannt waren, hatte Stern die ganze Zeit den Hörer nicht vom Ohr genommen, um kein einziges Wort der »Stimme« zu verpassen. Jetzt sprach sie wieder zu ihm.
»Was soll das Theater?« Robert spuckte seine Worte angewidert in das Telefon. Erst jetzt merkte er, wie sehr Borcherts Ausbruch ihn ebenfalls hochgeputscht hatte. Vielleicht war es keine gute Idee, seinen potenziellen Mörder anzubrüllen. Vielleicht aber hatte er sowieso nichts mehr zu verlieren. »Sie sind krank.«
»Ansichtssache.«
Die tiefe Stimme war trotz der künstlichen Verzerrung so durchdringend wie die Bässe bei einem Rockkonzert. »Der erste Tag Ihres Ultimatums
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