Das Kind
Ich weiß nur das Datum, wann es passiert.«
»Wann?«
»Übermorgen.«
»Am ersten November?«
»Ja. Um sechs Uhr früh.«
»Und wo?«
»Keine Ahnung. Ich treffe einen Mann. Auf einer Brücke.« Simon nahm den Hörer vom Ohr, als das hässliche Kichern in der Leitung immer lauter wurde.
8.
O kay – das reicht jetzt.«
Stern hatte das Telefon wieder an sich genommen. Die Stimme am anderen Ende klang so, als würde sie gerade einen asthmatischen Anfall erleiden. Dann registrierte Robert, dass er ausgelacht wurde.
»Was ist so lustig an dem, was Simon Ihnen eben erzählt hat?«
»Gar nichts. Leben Sie wohl.«
Rumms.
Es war, als schlüge in seinem Inneren eine Tür zu. Dann wurde ihm kalt.
»Was heißt das? Was soll ich jetzt tun?« »Gar nichts.«
»Und wann …« Verwirrt fi ng er an zu stottern. »Also, wann melden Sie sich wieder bei mir?«
»Nie mehr.«
Rumms.
Die Tür wurde verriegelt und versperrte ihm endgültig den Zugang zu all dem, was hier gerade passierte. »Aber … ich verstehe nicht. Ich habe Ihnen doch noch gar keinen Namen genannt.« Stern nahm im Augenwinkel Simon wahr, der sich gerade rücklings auf ein Sofa fallen ließ. »Ja, und deshalb ist unser Deal an dieser Stelle geplatzt.« »Sie werden mir nicht sagen, was Sie über Felix wissen?« »Nein.«
»Aber wieso nicht? Was habe ich falsch gemacht?« »Gar nichts.«
»Dann geben Sie mir noch die Zeit, die wir ursprünglich vereinbart hatten. Sie sagten, ich hätte fünf Tage. Heute ist erst Sonnabend. Ich beschaffe Ihnen den Namen des Mörders, und Sie sagen mir, wer der Junge mit dem Feuermal ist.«
Stern registrierte Carinas verwunderten Blick, den sie ihm aus der Ferne zuwarf. Er selbst hatte sich auch noch nie so fl ehentlich sprechen gehört.
»Oh, das kann ich Ihnen schon heute verraten. Es ist Ihr Sohn Felix. Und er lebt an einem wunderschönen Ort bei Adoptiveltern.«
»Was? Wo?«
»Warum sollte ich Ihnen das sagen?«
»Weil ich mich auch an die Abmachung halte. Ich führe Sie zu dem Mörder. Ich verspreche es Ihnen.« »Ich fürchte, das ist nicht mehr nötig.« »Aber wieso?«
»Na, denken Sie doch einfach mal scharf nach: Der Mann, übermorgen, auf der Brücke, das bin ich.« »Ich verstehe nicht.«
»Doch, tun Sie. Ich habe übermorgen um sechs eine Verabredung. Simon will mich töten. Das haben Sie soeben herausgefunden, und das reicht mir als Warnung. Ich brauche keine weiteren Informationen mehr von Ihnen. Leben Sie wohl, Herr Anwalt.«
Stern glaubte einen leisen Kuss gehört zu haben, bevor das Gespräch endgültig beendet war.
9.
D ie Breitreifen des Wagens fl ogen über den nassen Asphalt
der Stadtautobahn. Stern saß auf der Rückbank neben Simon und versuchte, einen Blick in die Wohnungen der grauen Mietshäuser zu erhaschen, an denen sie gerade vorbeischossen. Er wollte etwas Reales sehen. Keine Menschen, die Särge öffneten oder Tote von ihrer Zimmerdecke schnitten. Sondern ganz normale Familien, die gerade das Abendessen vorbereiteten, bei denen der Fernseher lief oder Freunde am Wochenende zu Besuch kamen. Doch die Lichter des Alltagslebens fl ogen zu schnell an ihm vorbei. Fast so schnell wie seine wirren Gedanken.
Verbrecher. Der übelsten Sorte. Mord, Vergewaltigung, Pro-
stitution, Folter. Die haben sich einmal durch die Kapitalde-
likte des Strafgesetzbuches gearbeitet.
»Was meinst du?«, fragte Carina von vorne. Sie band sich gerade ihr dichtes Haar zu einem Pferdeschwanz. Stern hatte gar nicht bemerkt, dass er laut gedacht hatte.
»Wenn Engler die Wahrheit sagt, dann waren die Ermordeten für ihre Brutalität berühmt.«
Sie haben eine Blutspur durchs Land gezogen. Wir kamen
gar nicht mehr mit dem Aufwischen hinterher.
»Bis jemand auf der Bildfl äche erschien, der die Mörder ermordete«, meldete sich Borchert schmatzend zu Wort. Er kaute schon den dritten Kaugummi, seit sie von der »Titanic« Richtung Berlin losgefahren waren, und legte die unangenehme Angewohnheit an den Tag, die ausgelutschten Dinger vor sich auf das Armaturenbrett zu kleben. »Ja. Ein Rächer, wenn wir Simon glauben. Er hat sie einen nach dem anderen erledigt. Alle bis auf einen.« Stern beugte sich nach vorne. »Vermutlich ist die ›Stimme‹ sogar der Kopf der Bande.«
Er griff sich in seinen verspannten Nacken. Die Muskeln waren so hart wie Knochen.
»Das würde jedenfalls diese knallharte Jagd nach dem Mörder seiner Kumpel erklären.« Borchert sah in den Rückspiegel. »Bei dem Aufwand, den er betreibt, muss es was
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