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Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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später. Sein Fuß hörte auf zu zittern, die Augen schlossen sich, und seine Atmung ging wieder etwas ruhiger. Eine weitere Minute später schlief Simon erschöpft in Carinas Armen ein. »Das ist doch Wahnsinn. Das muss aufhören.« Da Borchert immer noch keine Anstalten machte, anzuhalten, war Stern jetzt an Carinas Stelle nach vorne geklettert, um die Situati on vom Beifahrerplatz aus in den Griff zu bekommen. »Nimm die nächste Ausfahrt und fahr zum Krankenhaus. Ihr habt es doch eben selbst gesehen. Der Junge braucht dringend medizinische Hilfe. Er gehört in eine Klinik, und nicht in diesen Alptraum.«
»Ach ja? Warum?«
»Warum? Bist du blind? Du hast doch eben selbst gesehen …« »Weißt du, was ich an euch Juristen so hasse?«, fi el Carina ihm ins Wort. »Ihr Klugscheißer versteht nichts von der wahren Welt, aber ihr redet überall mit. Das hier eben war ein ganz einfacher epileptischer Anfall. Nicht schön. Aber auch kein Fall für die Intensivstation. Simon hätte nur etwas früher sein Carbamazepin bekommen müssen, dann hätte er jetzt nicht diese Akutbehandlung gebraucht.« »Was redest du da für einen Mist? Die Frage ist doch nicht, was er hatte, sondern warum er den Anfall eben bekam. Un ter seinem Schädelknochen wächst ein Tumor. Damit geht man nicht in den Zoo, und man buddelt erst recht keine Leichen aus.«
»Auch hier redest du wieder Blödsinn. Du weißt doch gar nicht, woran Simon leidet. Du hast dich nicht einen Funken mit seiner Krankheit auseinandergesetzt, richtig? Simon hat einen Tumor im Frontalhirn. Das bedeutet aber nicht, dass er deswegen rund um die Uhr eine medizinische Überwachung bräuchte. Die bekommt er nur in Zeiten von Chemound Strahlentherapie. Der Junge ist alle sechs Wochen im Krankenhaus, und dann auch nur für vierzehn Tage. Wenn Professor Müller derzeit nicht gerade überprüfen würde, ob sie bei ihm die Bestrahlungen wieder ansetzen sollten, würde er die Nächte in einem ganz normalen Kinderheim schlafen.«
»Auch das wäre besser, als hier mit uns von einem Nacht club zum nächsten zu rasen.«
Borchert hatte vorgeschlagen, die Nacht in der Diskothek eines anderen Bekannten zu verbringen, die über ein verstecktes Hinterzimmer verfügte, das angeblich selbst der härtesten Polizeirazzia standhielt.
»Weißt du, was Simon uns jetzt sagen würde, wenn er wach wäre?«, fragte Stern wütend und gab gleich selbst die Antwort: »Lasst mich in Ruhe.«
Carina schüttelte energisch den Kopf. »Nein, im Gegenteil. Er würde sagen: ›Lasst mich nicht allein.‹ Ich weiß von ihm, dass er die Nächte nicht mag. Er bekommt Angst. Sowohl im Heim wie im Krankenhaus. Ihr habt doch selbst mitbekommen, wie er sich vorhin gefreut hat. Im Zoo, im Auto und beim Tanzen.«
»Und er hat geweint, Tote gesehen und Krämpfe gehabt.« »Unter diesen Symptomen leidet er sowieso. Wir können sie abmildern, indem wir bei ihm sind, wenn er aufwacht. Und außerdem scheinst du eines überhaupt nicht zu begreifen, Robert Stern. Hier geht es nicht nur um dich und um Felix, sondern zuerst einmal um Simon. Der Junge wird sterben. Und ich will nicht, dass er es in dem Glauben tut, einen Menschen ermordet zu haben, verstehst du? Deshalb bin ich zu dir gekommen. Wir können seinen Tod nicht abwenden. Aber wir können ihm seine Schuldgefühle nehmen. Du weißt gar nicht, wie sensibel er ist. Zu glauben, einem anderen Leid angetan zu haben, zerreißt ihn förmlich. Und das hat er nach all dem Dreck, durch den er in seinem kurzen Leben schon marschieren musste, einfach nicht verdient.« Stern wusste nicht, was er auf Carinas emotionalen Ausbruch erwidern sollte, und starrte durch die Windschutzscheibe. Im Grunde genommen war sie mit ihren Überlegungen zu den gleichen Ergebnissen gekommen wie er
selbst. So wahnsinnig es war, mit einem krebskranken Kind vor der Polizei zu fl iehen, um hinter das Geheimnis seiner Wiedergeburtsphantasien zu gelangen, so wenig sprach dafür, sich jetzt zu stellen. Engler würde sie stundenlang verhören und danach allesamt in Untersuchungshaft stecken. Auf keinen Fall aber würde der Kommissar ihnen Glauben schenken und versuchen, das bevorstehende Treffen zweier Mörder auf irgendeiner Brücke zu verhindern. Wie auch – in der Hauptstadt gab es mehr Brücken als in Venedig. Was für ein Verbrechen auch immer übermorgen früh um sechs Uhr geschah, es würde unbeobachtet passieren. Stern würde es weder verhindern können noch jemals erfahren, was damals mit Felix auf

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