Das Kind
der Säuglingsstation geschehen war, sollten sie jetzt von Simon und seinem unerklärlichen Wissen getrennt werden.
»Und du kannst den Kleinen wirklich gut allein versorgen, ja?« Borchert, der sich unerwartet in die Unterhaltung einmischte, sah kurz in den Rückspiegel zu Carina. »Ich kann keine Garantien geben. Aber ich habe alles dabei. Cortison, seine Antiepileptika und ganz zur Not auch Diazepam-Rektiolen.«
Stern beobachtete, wie ein Motorradfahrer vor ihnen alle zehn Sekunden die Spur wechselte, als würde er für ein Slalomrennen üben.
»Das reicht aber nicht«, sagte er nach einer Weile. Er hob beide Arme und verschränkte sie hinter seinem Kopf. »Warum nicht?«, fragte Carina von hinten. »Er hat eine Krankenschwester, einen Anwalt und einen Bodyguard rund um die Uhr an seiner Seite. Was fehlt ihm denn noch?«
»Das wirst du gleich sehen.«
Stern nahm seinen rechten Arm wieder herunter und gab
Borchert ein Zeichen, die Stadtautobahn an der Ausfahrt Köpenick zu verlassen. Zehn Minuten später parkten sie vor einer Tür, deren Schwelle er eigentlich niemals im Leben hatte überschreiten wollen.
11.
A ls sie ihm mit der fl achen Hand ins Gesicht schlug, wusste
er, dass sie bleiben durften. Der erste Schlag, ein halbherziger Stoß gegen seine Brust, war lächerlich wirkungslos geblieben, was Sophie nur noch wütender gemacht hatte. Danach holte sie nochmals aus. Er hätte sich drehen, die Ohrfeige mit einem Arm abfangen oder zumindest abmildern können, doch er schloss nur die Augen und wartete auf das Klatschen, gefolgt von dem siedenden Schmerz, der seine linke Gesichtshälfte vom Ohr bis hin zum Unterkiefer überzog.
»Wie konntest du nur?«, fragte seine Exfrau mit einer Stimme, die klang, als läge unter ihrer Zunge eine Glasmurmel. Stern wusste, dass sie ihm damit drei Fragen auf einmal stellte: Warum hast du mir Felix aus dem Arm genommen, als ich ihn noch nicht loslassen wollte? Weshalb kommst du zehn
Jahre später mit diesem Flittchen zu mir? Und wie konntest
du die Erinnerung in Gestalt eines todkranken Kindes in
mein Heim tragen?
Er trat an das Keramikspülbecken, hielt ein frisches Geschirrhandtuch unter den kalten Wasserstrahl und wischte sich damit über die feuerrote Wange. Die Landhausküche
mit ihren hellen, warmen Holzmöbeln war für einen Streit wie diesen eine denkbar unpassende Kulisse. Wie überall in dem Köpenicker Einfamilienhaus spürte man auch hier die sorglose, friedliche Atmosphäre, die sich Sophies neue Familie geschaffen hatte.
Kein Wunder, dass sie ihn nicht hereinlassen wollte, als er vor zwanzig Minuten unangemeldet auf der Klinkertreppe ihrer Veranda gestanden hatte. Borchert hatte sie abgesetzt und war dann weitergefahren, um sich sein eigenes Versteck zu suchen. Nur die Tatsache, dass Robert den schlafenden Simon in seinen Armen hielt, ließ Sophie zögern. Etwas zu lange. Stern hatte den Moment genutzt und war einfach eingetreten.
»Die Polizei war schon da.« Sophie stützte sich erschöpft auf dem Kochblock in der Mitte des Raumes ab, über dem eine Auswahl von antik anmutenden Messingtöpfen hing. Robert war sich nicht sicher, ob sie wirklich benutzt wurden oder nur zu dekorativen Zwecken dort angebracht waren. Aber der strahlende Ehemann auf dem Kühlschrankfoto wirkte wie ein Hobbykoch, der mit solchen Utensilien umzugehen wusste. Vermutlich standen sie nach einem harten Arbeitstag gemeinsam am Herd, schmeckten die Bratensoße ab und jagten lachend die Zwillinge ins Wohnzimmer zurück, wenn sie naschen wollten.
Schon aus diesem Grund war es die richtige Entscheidung von Sophie gewesen, ihn zu verlassen. Das einzige Mal, als er sie kulinarisch überraschen wollte, war ihm sogar die Tiefkühlpizza misslungen.
»Was hast du ihnen gesagt?«, fragte er.
»Die Wahrheit. Ein Kommissar Brandmann war bei mir. Ich hatte ja tatsächlich keine Ahnung, wo du steckst und was du getan hast. Und ganz ehrlich, Robert, ich will es auch gar nicht wissen.«
»Mami?«
Sophie fuhr herum zur Tür, in der Frida barfuß mit einer Puppe in der Hand stand. Das ausgewaschene Snoopy-TShirt schlackerte ihr bis weit über die Knie. »Was ist denn, mein Schatz? Du solltest doch schon längst im Bett sein.« »Ja. War ich schon. Aber ich wollte Simon noch Cinderella zeigen.«
»Dann mal schnell.«
»Aber sie hat keine Strümpfe!«
Das blondgelockte Mädchen streckte ihrer Mutter schmollend die nackten Plastikfüße ihrer Lieblingspuppe entgegen. Sophie zog eine Schublade auf und
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