Das Kind
Woher weißt du das alles?«
Die Pinnwand am Supermarkt. Harry. Die Bilder.
»Du lässt nicht locker, was? Okay, ich sag’s dir. Ich stecke selbst da mit drin.«
Stern schrak hoch.
»Ja, ganz tief. Willst du wissen, wie Harry mit Nachnamen
heißt?«
Er sagte es ihm, bevor Stern sich überlegen konnte, ob er es wirklich hören wollte.
»Borchert. So wie ich. Harry ist mein kleiner, lieber, netter Stiefbruder.«
Als der Wagen die Behelfsausfahrt zurück zur Straße fuhr, hatte Stern das Gefühl, diesen schrecklichen Ort in seinem Leben nie wieder hinter sich lassen zu können. Selbst wenn Andi ihn jetzt zum Flughafen fahren und er das Land verlassen würde, käme ein Teil von Harry, seinem Wohnwagen und der Müllhalde immer mit. Und deshalb war es eigentlich auch egal, dass sie sich auf der Stadtautobahn einfädelten, die Richtung Zehlendorf führte.
6.
D as Café sah so aus, wie Stern sich fühlte. Leer, verlassen,
tot. Er war eine Weile unschlüssig vor der Kneipentür stehengeblieben, auf der eine Schülerband schief und krumm eine Konzertankündigung plakatiert hatte. Dann ging er nach rechts, zum Schaufenster. »Zu vermieten« stand in rotweißen Großbuchstaben auf einem Schild, darunter, etwas kleiner, die E-Mail-Adresse eines professionellen Maklers. Stern spähte in den staubigen Innenraum. Außer einer Reihe von Holzstühlen, die verkehrt herum auf schmucklosen langen Tischen standen, gab es wenig zu sehen. Also gut, dachte er. Sollte sie wirklich da drinnen auf mich
warten, ist wohl klar, dass die Frau kein Bett kaufen will.
Stern drehte sich um und gönnte seinen Augen einen Blick auf das imposant geschwungene Spitzhaubendach des Jugendstilbahnhofes. Er konnte sich gut vorstellen, was die Anwohner des Prachtplatzes im Herzen Zehlendorfs über diesen verlassenen Kneipen-Schandfl eck in ihrem Rücken dachten. Er fragte sich aber auch, was man falsch machen konnte, damit ein Restaurant in dieser wohlhabenden Gegend pleiteging.
Eine S-Bahn fuhr über die Brücke, und fast hätte er das Knarren hinter sich gar nicht gehört. Doch dann registrierte er es und wirbelte herum. Tatsächlich. Die klinkenlose Eingangstür, gegen die er sich eben noch vergeblich mit der Schulter gestemmt hatte, stand jetzt einen Spalt offen. Er sah sich um. Als keiner der Passanten ihn zu beobachten schien, trat er ein und roch den typischen Geruch leerstehender Räume, bevor er noch eine zusätzliche, unerwartete Note darin ausmachte. Ein weltbekanntes Damenparfüm. Mit jedem Meter, den Stern sich der rauchenden Frau am Fenster näherte, korrigierte er das Alter, auf das er sie schätzte. Hatte sie vom Eingang aus noch wie vierzig ausgesehen, schätzte er sie um mindestens zwanzig Jahre älter, als er sich ihr gegenüber an den Tisch setzte. Zweifellos waren Skalpell und Botox ihre regelmäßigen Antworten auf den natürlichen Alterungsprozess. Eine Tatsache, die man erst aus der Nähe betrachtet problemlos erkennen konnte. Die unnatürliche Straffheit ihrer Gesichtsmuskeln stand in krassem Gegensatz zu den Altersfl ecken auf ihren Fingern, und auch der schlaffe Hals schrie nach einer Anpassung. Trotz dieser Merkmale war Stern sich sicher, diese Frau bei einer polizeilichen Gegenüberstellung niemals wiedererkennen zu können. Nicht ohne Grund trug sie eine silberweiße Pa genkopfperücke und versteckte ihre Augen hinter einer undurchsichtigen Sonnenbrille, mit der sie aussah wie Puck, die Stubenfl iege.
»Darf ich bitte Ihren Ausweis sehen?«
Stern zog seine Brieftasche hervor, nicht überrascht, dass das ihre erste Frage war.
Borchert hatte ihn vorgewarnt. In einigen Päderastenkreisen galt das Aufgeben jeglicher Anonymität als bester Schutz. Jeder kannte jeden. Wie bei der Mafi a achtete man streng darauf, dass einer sich erst einmal strafbar machte, bevor er in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Dazu wurde der Neue mit seinem eigenen Ausweis in der einen und einem illegalen Pornoheft in der anderen Hand fotografi ert und in einer Kartei gespeichert.
Stern räusperte sich und legte unaufgefordert die Polaroids auf die braun-weiß karierte Tischdecke.
»Ich bin kein Anfänger.«
Ein kurzes Zucken der gelifteten Wangenpartie war die einzige Reaktion der Frau. Spätestens jetzt war klar, worum es hier wirklich ging. Jeder normale Mensch hätte bei Vorlage dieser Bilder die Polizei gerufen. Erst recht, wenn er ein harmloses Verkaufsgespräch erwartete. Doch die knochige Frau zog seelenruhig an einer Zigarette, die so dünn
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