Das Kind
wimmerte Harry und spuckte einen blutigen Schneidezahn aus.
Auch Stern brüllte los.
»Andi, hör auf! Hast du sie nicht mehr alle?« »Geh bitte raus.«
»Nein, das werde ich nicht tun. Du bist ja wohl total übergeschnappt!«
»Das verstehst du nicht«, sagte Borchert und zog seine Waf fe. Stern hörte ein metallisches Klicken und wusste, dass Andi sie soeben entsichert hatte.
»Verschwinde! Jetzt!«
»Nein. Das werde ich nicht zulassen. Egal was Harry getan hat. Gewalt ist keine Lösung.«
»O doch.«
Borchert hob die Waffe und zielte auf die Stirn des Anwalts. »Ich sag’s nicht noch mal.«
»Bitte nicht. Bitte bleiben Sie.« Harrys Augen zuckten zwischen Borchert und Stern hin und her. Der blutende Mann sah aus wie jemand, der in den letzten Sekunden vor seiner Hinrichtung erst realisiert, dass er zum Tode verurteilt ist. Borchert hingegen hatte wieder seinen Schalter umgelegt. Wie gestern, als er in der »Titanic« zur Tür gerannt war, gab es auch jetzt für ihn keine Hemmschwelle mehr. Er würde das hier durchziehen. Gegen jedes Hindernis. Notfalls auch gegen seine Begleitung.
»O mein Gott, bitte gehen Sie nicht … Nein!« Stern wusste, dass ihm diese fl ehende, sich hektisch überschlagende Stimme nicht mehr aus dem Kopf gehen würde, als Borchert ihn nach draußen stieß und die Tür des Campingwagens von innen verriegelte.
5.
W enn Tiere in freier Wildbahn während eines Konfl ikts
völlig unlogische Verhaltensweisen an den Tag legen, bezeichnet die Forschung das als Übersprungshandlung. Eine Seeschwalbe zum Beispiel fängt an, sich zu putzen, wenn sie von der Entscheidung überfordert ist, ob sie ihre Brut verteidigen oder die Flucht ergreifen soll. In diesem Moment wäre Robert Stern ein ebenso lehrreiches Objekt für einen Verhaltensforscher gewesen.
Er stand mit dem Rücken zu dem schwankenden Wohnmobil, unschlüssig, ob er wegrennen, Hilfe holen oder eingreifen sollte, und wühlte wie besessen im Sperrmüll herum. Auf der Suche nach einem Verteidigungswerkzeug, so versuchte er sich einzureden. Einem spitzen Gegenstand oder einer Metallstange, mit der er die Tür aufhebeln konnte, hinter der Harry seit zwei Minuten nicht mehr schrie. Erst hatte Stern ihn noch verstanden. Dann wurden die gequälten Satzfetzen immer verwaschener. Zuletzt kam nur noch ein Gurgeln, während gleichzeitig ein schmatzendes Stampfgeräusch in regelmäßigen Intervallen den Campingwagen erschütterte.
Stern suchte immer schneller, schob eine Autobatterie zur Seite, zog den Schlauch einer vorsintfl utlichen Waschmaschine ab, nur um ihn gegen eine Drahtschlinge einzutauschen, mit der er ebenso wenig anzufangen wusste wie mit dem Rest des stinkenden Mülls. Wenn er hier keine geladene Doppellauffl inte fand, konnte er die Eskalation im Inneren des Wohnwagens sowieso nicht aufhalten.
Trotzdem suchte Stern weiter im Dreck und hörte erst damit auf, als die Stille hinter ihm unerträglich wurde. Plötz lich gab es kein Wimmern, kein Jammern und auch kein Splittern mehr, und die Autobahngeräusche, die sich hier unten in dem Betonkessel sammelten, hatten sich wieder ihre akustische Hoheit zurückerobert.
Stern drehte sich um und suchte nach Anzeichen, ob das Schlachtfest vorbei oder nur eine Pause eingetreten war. Er stapfte durch den Schlamm auf das Wohnmobil zu, trat auf einen Kothaufen unklarer Herkunft und entschied, dass es ihm egal war. Obwohl er sich vor dem Anblick fürchtete, der ihn hinter der zerkratzten Plexiglasscheibe erwartete, trat er ganz dicht an das Fenster des Wohnwagens heran. Stellte sich auf die Zehenspitzen. Und rutschte fast nach hinten aus, als die Tür zwei Schritte rechts von ihm auffl og. Borchert trat heraus. Sein karminrotes Trikot hatte die Farbe verändert und klebte jetzt schwarz an seinem Oberkörper, so sehr hatte er geschwitzt. Stern hingegen fror, als er Andi ins Gesicht sah. Kleine, sprühnebelartige Tröpfchen überzogen dessen Stirn und Teile seiner breiten Nasenpartie. Als hätte er eben Harrys menschenunwürdiges Wohnloch renoviert und die Decke mit blutroter Farbe gestrichen.
»Er weiß wirklich nichts. Lass uns gehen«, sagte er lapidar, als er Stern entdeckte. Er schüttelte mit schmerzverzerrtem Gesicht seine rechte Hand wie jemand, der sich gerade die Finger in der Tür geklemmt hat. Den aufgerissenen Knöcheln nach hatte er nicht auf Harry, sondern auf Stacheldraht eingeschlagen.
»Das war’s. So geht’s nicht weiter. Ich hör auf.« Stern drehte Borchert den Rücken zu und
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