Das Kind
war wie die Finger, die sie hielten. Sie machte sich noch nicht einmal die Mühe, die schrecklichen Aufnahmen dezent umzudrehen.
»Trotzdem muss ich Sie bitten aufzustehen.« Stern tat wie ihm befohlen.
»Ziehen Sie sich aus.«
Auch damit hatte er gerechnet. Schließlich könnte er ja von der Polizei sein. Ein Agent provocateur, dem es egal war, dass er sich strafbar machte. Oder jemand, der perfekt ge fälschte Papiere besaß. Stern hatte lange mit Borchert darüber diskutiert, was passieren würde, wenn sie herausfanden, wer er wirklich war. Ein gesuchter Anwalt. Auf der Flucht, mit einem aus dem Krankenhaus entführten Kind. Borchert meinte, es könne nur von Vorteil sein. Als Verbrecher wäre er einer von ihnen. Letztlich war die gesamte Diskussion aber müßig gewesen. Ihnen war einfach nicht genug Zeit geblieben, um sich neue Ausweise zu besorgen, wenn sie das hier wie geplant durchziehen wollten. »Auch die Shorts.«
Die Frau deutete auf Sterns Hüfte. Als er sich splitternackt vor ihr im Kreis drehte, grunzte sie zufrieden. Dann öffnete sie eine Kunstlederhandtasche, die sie bislang auf dem Schoß gehalten hatte, und holte einen kleinen schwarzen Stab hervor.
»Okay«, hauchte sie, nachdem sie ihn wie auf dem Flug hafen mit dem Metalldetektor abgetastet hatte. Dann wiederholte sie die Prozedur mit den Kleidungsstücken, die in einem kleinen Häufchen vor ihr auf dem Tisch lagen. Robert hatte sich vor einer halben Stunde noch schnell einen Stangenanzug, Hemd und Unterwäsche in einem überfüllten Einkaufszentrum an der Schloßstraße gekauft. Wahrscheinlich war er von einem Dutzend Überwachungskameras eingefangen worden, aber dieses Risiko hatten sie eingehen müssen. Er konnte unmöglich glaubhaft einen Vater spielen, der seinen eigenen Sohn für perverse Sexspiele an Fremde verkaufte, wenn er zu dem ersten Treffen in einem Fußballtrikot erschien.
»Also schön«, sagte sie, ohne Stern seine Sachen zurückzureichen. »Sie dürfen sich wieder setzen.« Er zuckte mit den Schultern und fühlte sich wie bei einem Arztbesuch. Das Holz des Stuhls drückte kalt gegen seinen
bloßen Hintern.
»Wo ist denn das Bett?«, fragte sie, den Blick auf seinen behaarten Oberkörper gerichtet. Stern ekelte sich vor sich selbst, als sich wegen der Kälte seine Brustwarzen versteiften. Die Frau deutete es vermutlich als Zeichen sexueller Erregung, und allein der Gedanke daran machte ihn krank. »Es steht draußen.«
Sie folgte seinem Blick. Ein halbhoher Spitzenvorhang zog sich von rechts nach links einmal quer über die bräunliche Fensterscheibe. Die Welt dahinter schimmerte in angenehmen herbstlichen Rottönen, die der Sonnenuntergang in die letzten, regenfreien Stunden des Tages gebracht hatte. Ein Ehepaar führte gerade zwei Hunde über den hochherrschaftlichen Platz. Sie genossen den schwächer gewordenen Wind, der das Laub vor ihren Füßen zum Tanzen brachte. Doch Stern konnte von all der Schönheit da draußen nichts erkennen. Vor seinen Augen verdunkelte sich der Platz, als er zu dem parkenden Auto sah, auf dessen Rücksitz Simon auf sein Zeichen wartete.
7.
V or zwei Jahren, am Abend vor der ersten Kernspinunter suchung, hatte Simon ein zweibändiges Lexikon im Kinderheim entdeckt. Er zog Band I aus dem wackeligen Bücherregal im Gemeinschaftsspeisesaal und nahm ihn mit auf sein Zimmer.
Fasziniert von den Informationen über das Abendland, die
Arktis oder Astronomie, fasste er kurz vor dem Einschlafen den Plan, ab sofort täglich ein neues Wort zu lernen. Dabei wollte er alphabetisch vorgehen. Von A bis Z. Und so kam es, dass er am nächsten Morgen nicht traurig, wütend oder verzweifelt war, als Professor Müller zuerst die Heimleiterin und danach ihn selbst in sein Büro in der Seehausklinik bat. Er war in erster Linie enttäuscht, dass man ihm Vokabeln wie »infaust« oder »Tumor« erklärte, lange bevor sie an der Reihe waren.
Auch heute hatte er ein neues Wort gelernt. Päderast. Robert wollte es zuerst nicht wiederholen. Es war ihm herausgerutscht, als er ihm erklärte, was jetzt gleich passieren sollte.
Halt dich immer dicht bei mir. Weich mir nicht von der Seite.
Und egal, was passiert, hör nur auf mich, verstehst du?
Simon hallten Roberts Ermahnungen noch in den Ohren, als er die Autotür von innen öffnete.
Du machst alles, was ich dir sage. Und rede nicht mit den
Leuten, die wir gleich treffen, hörst du? Das sind Päderasten.
Böse Menschen. Sie lächeln vielleicht, wollen dir die Hand
geben
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