Das Kind
entfernte sich, so schnell er konnte.
»Womit?«, hörte er Andi hinter sich rufen.»Mit dem Wahnsinn hier. Das Ganze muss ein Ende haben.
Ich geh zur Polizei und stelle mich. Und ich werde denen auch sagen, was du gerade getan hast.«
»So, was denn? Was hab ich denn gemacht?« Stern drehte sich um.
»Du hast einen schwachen, völlig wehrlosen Mann gefoltert. Ich trau mich gar nicht nachzusehen, ob er überhaupt noch lebt.«
»Das tut er. Leider.«
»Du bist irre, Andi. Auch wenn es um das Leben meines Sohnes geht. Du kannst nicht einfach auf unschuldige Menschen einschlagen.«
Borchert spuckte auf den schlammigen Boden. »Du irrst. Sogar zweimal. Erstens geht es hier nicht nur um das wirre Wiedergeburtstrallala um deinen Felix. Morgen soll ein Baby verkauft werden, schon vergessen? Und zweitens …« – Andi malte Anführungszeichen in die Luft – »… ist dieser Mensch nicht unschuldig. Er hat eine Elfjährige ver gewaltigt. Der Typ ist das Letzte. Das Toilettenwasser ist zu schade, um das Stück Scheiße herunterzuspülen.« »Er sagt, er hat dafür bezahlt.«
»Ja, er war im Knast. Vier Jahre. Aber danach?« »Er hat aufgehört. Sieh ihn dir doch an. Er verwest vor deinen Augen. Dieser Mann braucht deine Schläge nicht. Er stirbt auch so.«
»Leider nicht schnell genug.«
Die Fotos, die Borchert vor Stern in den Dreck warf, blieben zum Teil senkrecht in der feuchten Erde stecken. Robert bückte sich und zuckte dann wie von einer giftigen Schlange gebissen zurück.
»Ja, guck sie dir ruhig an. Die hab ich bei deinem Freund Harry unter der Matratze gefunden.«
Stern traute sich nicht mehr zu atmen; er fürchtete, das Böse zu inhalieren, das ihn hier umgab.
»Was denn?« Borchert bückte sich jetzt selbst und zog eines der Farbpolaroids aus dem Dreck. Die weit aufgerissenen Augen des Mädchens quollen so stark hervor wie der schwarze Gummiball in ihrem Mund.
»Guter Harry, was? Ich wette, die Kleine wurde nicht älter als fünf. Und das sind nur die Fotos. Soll ich zurückgehen und die Videos holen?«
Stern wusste, dass es egal war, wann diese Aufnahmen gemacht wurden. Allein die Tatsache, dass Harry sie in seinem Besitz hatte, war Beweis genug, dass er immer noch aktiv war.
Trotzdem, wollte er sagen, aber das Wort kam ihm nicht über die Lippen. Er stand zwischen zwei Welten: der kranken und morbiden eines Kinderschänders und der von Andi, in dessen Universum man nur mit Gewalt zum Ziel kam. Die dritte Welt, seine eigene, war verschwunden. »Und nun?«, fragte er, nachdem sie schweigend zurück zum Auto marschiert waren. Stern konnte wegen des Regens in seinen Augen kaum noch den Weg erkennen. Das Wasser schien keine reinigende oder klärende Wirkung zu besitzen. Anstatt den Schmutz von ihm abzuspülen, massierte es ihn immer tiefer in die Poren seiner Haut.
»Nun beruhigen wir uns erst einmal und machen einen Plan.«
Borchert öffnete die Fahrertür und presste sich wieder hinter das Steuer des Corolla. Bis Stern neben ihm saß, hing der Wagen wegen des ungleich verteilten Gewichts in gefährlicher Schräglage.
»Wir haben noch drei Stunden Zeit bis zum Treffen am Mexikoplatz.«
Borchert startete den Motor, der sich nach einem heftigen
Schluckauf wieder verabschiedete. »O bitte, tu mir das nicht an.« Er versuchte es noch einmal. Vergeblich. Der Motor war abgesoffen.
»Und was ist mit der Empfehlung, die wir brauchen?« Stern war die Autopanne im Moment egal. Von allen Übeln der letzten Stunden war dieses das einzig greifbare. Weder bei Simons Visionen noch bei der »Stimme« konnte man einfach eine Motorhaube öffnen und das Problem mit einem Handgriff aus der Welt schaffen.
»Die haben wir«, lachte Borchert.
Seine Freude galt vor allem dem Kleinwagen, der schließlich doch aufheulte, als er es noch einmal versuchte und dabei das Gas voll durchtrat.
»Unsere Empfehlung sind die Fotos.« Er tippte auf die Brusttasche seiner Jacke, in der die Polaroids steckten, nachdem er sie vor dem Wohnwagen wieder aufgelesen hatte. »Die bekommt man nicht ohne Kontakte. Wer solche Bilder besitzt, kennt jemanden in der Szene. Eine bessere Visitenkarte wirst du der Lady heute nicht auf den Tisch knallen können.«
Stern schnallte sich an und vergrub das Gesicht in seinen kalten Händen. Er versuchte etwas anderes zu spüren als die Übelkeit, die in seinem Magen tobte.
»Ich hab dich das schon mal gefragt«, fi ng er an, als der Wagen einen Satz nach vorne machte. »Warum kennst du dich so gut mit diesem Gesindel aus?
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