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Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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oder dich anfassen. Aber das musst du dir nicht gefal-
len lassen.
Robert winkte noch einmal vom Fenster aus zu ihm herüber, und Simon beeilte sich, aus dem Wagen auszusteigen. Der Anwalt sah traurig aus. Mit diesem Blick glich er all denen, die zum ersten Mal von seiner Krankheit hörten, und Simon hätte ihm am liebsten gesagt, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Denn heute war eigentlich ein guter Tag. Eine Drei auf seiner Befi ndlichkeitsskala. Ohne Schmerzen, mit geringer Übelkeit, und das Taubheitsgefühl in seiner linken Hand war auch zurückgegangen. Aber wie meist nach den epileptischen Anfällen war er wieder sehr,
sehr müde und deshalb auf der Hinfahrt mehrmals eingeschlafen.
Carina hatte ihn erst gar nicht gehen lassen wollen und heftig protestiert, als Borchert bei Sophie aufgetaucht war, um sie beide abzuholen. Als er an die Hintertür klopfte, hatten sie sich gerade gemeinsam mit den Zwillingen einen Zeichentrickfi lm angesehen. Dann war Carina mit Andi ins Ne benzimmer gegangen, und er hatte zwischen dem Gekicher der Mädchen und der orchestralen Filmmusik nur noch Wortfetzen verstehen können.
»… unsere einzige Chance … nein, er muss sich nur zeigen … Keine Sorge … besteht keine Gefahr … ich garantiere es
mit meinem Leben …«
Schließlich war Carina wieder ins Wohnzimmer geeilt, hatte ihm wütend seine Cordjacke übergezogen. Auf dem Weg hierher hatten sie bei ihrem Golf haltgemacht, und dann waren Carina und Borchert in zwei getrennten Wagen hierher zu diesem schönen Platz gefahren, wo er sich gefreut hatte, seinen Anwalt wiederzusehen. Der gab ihm jetzt das vereinbarte Startsignal.
»Tschüs, Carina«, wollte Simon eigentlich noch sagen, bevor er aufbrach. Doch das hatte Robert ihm ja ausdrücklich verboten.
Keine Blicke zur Rückbank. Kein Wort der Verabschie-
dung.
Simon hielt sich an die Anweisungen und lief, seinen Blick starr geradeaus gerichtet, auf die Eingangstür des »Madison Café« zu. Er drückte die Tür mit der Schulter auf und trat in das schummrige Zwielicht der Kneipe.
Im gesamten Lokal brannte nur eine Glühbirne, links hinten in der Ecke. Robert sah irgendwie merkwürdig aus, als er genau dort von einem Stuhl aufstand. Seine Haare standen
ab, der neue Anzug war nicht richtig zugeknöpft, und das Hemd hing ihm seitlich aus der Hose. Als hätte er sich mit jemandem gerauft. Allerdings konnte es nicht die ulkige Frau mit der Sonnenbrille gewesen sein, die sich jetzt ebenfalls zu ihm umdrehte. Ihr Kostüm war völlig knitterfrei, und jedes Haar glänzte auf ihrem Kopf, als wäre es einzeln gekämmt worden.
Kurz bevor Simon ihren Tisch erreichte, stolperte er leicht. Er sah nach unten und bemerkte, dass ein Schnürsenkel seiner Turnschuhe aufgegangen war. Als er sich bückte, um ihn wieder zuzubinden, wurde ihm leicht schwindelig. Die komische Frauenstimme aber hörte er laut und deutlich. »Komm, zeig dich mal, Jungchen.«
Er musste sich mit beiden Händen abstemmen, um wieder aus den Knien hochzukommen. Als die Frau sich direkt vor ihn stellte, vergaß er seine Müdigkeit jedoch für einen Moment und wollte am liebsten lachen. Sie erinnerte ihn an diesen Fallschirmspringer, den er mal im Fernsehen gesehen hatte. Die Haut über ihren hervorstehenden Wangenknochen sah aus, als würde sie von starkem Wind nach hinten gedrückt.
»Und du bist wie alt?«, fragte sie ihn. Ihr Atem roch nach kaltem Rauch.
»Zehn. Gerade geworden.« Simon biss sich auf die Zunge und sah schüchtern zu Robert auf.
Er hat mir doch verboten, etwas zu sagen.
Aber der Anwalt schien ihm zum Glück nicht böse zu sein. »Schön. Sehr schön.«
Die Frau hielt plötzlich einen schwarzen Metallstab in ihrer Hand. Stern griff ihr blitzschnell in den Arm. »Er wird sich hier aber nicht …«
»Nein, nein.« Die Frau lächelte verschlagen. »Er wird sich
nicht ausziehen müssen. Erst wenn mein Mann zu uns stößt. Dieses Erlebnis heben wir uns für später auf.« Simon verstand nicht, weshalb sie mit dem Ding vor ihm herumfuchtelte. Ihm war auch nicht klar, warum er sich danach diese komische Augenbinde aufsetzen sollte, durch die man nun gar nichts mehr sehen konnte. Doch als Robert es ihm vormachte, tat er es auch. Er hatte keine Angst. Nicht solange sein Anwalt bei ihm war, der sich irgendwie viel mehr zu fürchten schien als er.
Aber wovor? Solange sie zusammen waren, konnte doch
nichts passieren.
Deshalb drückte er ganz fest seine Hand. Nicht um sich selbst, sondern um Robert

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