Das Kind
Dann noch einen.
»Was wird das?«
»Darf ich mein Jackett ablegen?«
»Wenn Sie mögen …«
Stern streifte sich nicht nur das Sakko von den Schultern. Er öffnete auch noch die restlichen Knöpfe seines Hemdes und saß wenige Sekunden später mit nacktem Oberkörper auf dem Sofa.
»Worauf soll das jetzt hinauslaufen?«
Statt einer Antwort fuhr Stern sich mit der Zunge über die Lippen. Dann schluckte er zweimal. Er hoffte, es würde lasziv wirken. In Wahrheit unterdrückte er dadurch nur seinen immer stärker werdenden Brechreiz.
»Ach, kommen Sie.« Die Frau hob die Waffe wieder an, die sie für einen winzigen Moment gesenkt hatte. » Das soll ich Ihnen jetzt glauben?«
»Wieso nicht? Deswegen bin ich hier.« Stern streifte sich wechselseitig mit den Füßen seine schwarzen Lederschuhe
ab. Dann öffnete er die Gürtelschnalle.
»Sie haben es doch selbst gesagt: Ich bin kein Bulle. Ich bin auch kein Maulwurf. Ich bin einfach nur heiß.« Er zog sich den Gürtel aus der Hose und warf ihn zu ihr hinüber. »Kommen Sie zu mir. Überzeugen Sie sich selbst.« Stern konnte ihre Augen nicht sehen. Deshalb wusste er nicht, ob seine Theorie stimmte. Aber seine Erfahrung als Anwalt hatte ihn gelehrt, dass es immer ein Stück Fleisch gab, das man dem Gegner vor die Nase halten konnte, damit er wie ein Windhund in die gewünschte Richtung jagte. Man musste es nur fi nden. Bei den meisten Menschen war es die Gier, die sie Dinge tun ließ, die sie später bereuten. »Sie sind verrückt«, lachte die Frau und drückte ihre Zigarette aus.
»Vielleicht. Aber wenn Sie wollen, beweise ich Ihnen, wie ernst ich es meine.«
Stern zog sich die Socken aus und trug jetzt nur noch seine dünne Anzughose.
»Und zwar wie?«
»Kommen Sie her. Fassen Sie mich an.«
»Nein, nein, nein.« Sie blieb weiterhin stehen, bedrohte mit der Waffe jetzt seinen Schritt. »Darauf stehe ich nicht. Aber ich weiß etwas Besseres.«
»Was?«
Stern musste lächeln. Diesmal war es nicht gespielt. Denn sie hatte angebissen. Noch nicht sehr fest. Aber er sah, wie ihr Atem schneller ging, und hörte den verklärten Unterton in ihrer Stimme. Er hatte irgendeine Saite in ihr zum Klingen gebracht. Fraglich war nur, ob es die richtige war. »Stehen Sie auf.« Die Frau ging rückwärts zur Tür, immer darauf bedacht, den Abstand zwischen ihnen einzuhalten. Er gehorchte. Bewegung war gut. Die Richtung stimmte
auch. Alles war besser, als nutzlos auf dem Sofa sitzen zu bleiben und darauf zu warten, dass sich die Stimme der Sopranistin mit Simons Schreien mischte. So dachte er zumindest, bis die Frau zu ihm sagte: »Mal sehen, wie heiß Sie erst werden, wenn Sie meinem Mann dabei zuschauen dürfen.« 14.
C arina krümmte sich innerlich vor Panik.
Was sollte sie nur machen? Geradeaus weiter, die Königstraße hoch? Aber wie lange, etwa bis zur Glienicker Brücke? Oder rechts abbiegen zum Wasser? Genauso gut hätte sie eine der vielen Einfallstraßen zu ihrer Linken nehmen können.
Das Handy klingelte auf dem Beifahrersitz. Es glitt ihr fast aus den schwitzenden Fingern, als sie es aufklappen wollte. »Borchert?«, rief sie viel zu laut.
»Kalt.« Die Angst biss ihr in den Nacken, als sie die verzerrte Stimme hörte.
»Wer ist da? Was wollen Sie von mir?«
»Kalt.«
Halb wahnsinnig vor Furcht und Sorge um Simon versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Rechts von ihr ging die Endestraße ab. Fast wäre sie eingebogen. Der Name passte zu ihrer Lage.
»Was soll das? Ist das ein Spiel?«, fragte sie. »Heiß.«
Carina trommelte mit den Fingern ihrer rechten Hand einen
unkontrollierten Wirbel auf dem Kunststoffl enkrad. War das möglich? War sie gerade eine Marionette der Stimme, von der Robert ihr erzählt hatte? Aber warum? Sie überprüfte ihren grauenhaften Verdacht mit einer einfachen Frage: »Fahre ich noch in die richtige Richtung?« »Heiß.«
Tatsächlich. Der Irre will spielen. Und ich bin seine blinde
Kuh.
»Okay. Ich fahr bis nach Potsdam, ja?«
»Kalt.«
Also vorher abbiegen.
»Hier? In die Kyllmannstraße?«
»Kalt.«
»Also nach links?«
»Heiß.«
Carina ordnete sich auf der äußersten Spur ein und geriet fast auf die Gegenfahrbahn der Königstraße. »Bin ich gleich da?«
»Heiß.«
Sie sah sich um, doch hinter und vor ihr fuhren mindestens ein Dutzend unterschiedlicher Wagen, Transporter und zwei Motorräder.
Es war völlig unmöglich, einen Verfolger unter ihnen ausfi ndig zu machen.
»Der Grassoweg? Ich fahr in den Grassoweg?« Die verzerrte
Weitere Kostenlose Bücher