Das Kind
der Mann aufstand und Simon die Hand hinstreckte.
»Wir gehen dann mal nach oben, solange ihr das Geschäftliche beredet, ja, Liebes?«, säuselte er und warf seiner Frau einen Handkuss zu.
»Robert?«, fragte Simon schüchtern, während der Mann ihn hochzog.
Stern wollte aufstehen, doch der Ausdruck in den Augen der Frau hielt ihn davon ab. Er blinzelte, schloss kurz die Augen, um sich zu sammeln. Seine Gedanken rasten völlig wirkungslos im Kreis.
Was soll ich tun? Wo bleibt Borchert? Was soll ich nur tun?
Das gutaussehende Monster mit dem Jungen an der Hand war nur noch wenige Schritte von der offenen Wohnzimmertür entfernt, und er wusste nicht, wie er verhindern sollte, dass sie das Zimmer verließen.
»Robert?«, fragte Simon noch einmal. Es klang weich, warm und freundlich. Als würde er ihn um Erlaubnis fragen, heute Abend bei einem Schulfreund schlafen zu dürfen. Noch immer war das Kind voller Vertrauen, dass sein »Anwalt« ihn niemals in eine schlimme Situation bringen würde. Er
hatte ihm ja versprochen, den Fall zu klären und ihn vor allen Gefahren zu beschützen. In jeder Situation. Außerdem war der Junge nach wie vor unumstößlich davon überzeugt, morgen auf der Brücke jemanden töten zu müssen. Wenn dem so war, konnte ihm hier und heute ja nichts passieren.
Stern spürte Simons Gedankengänge in diesem Moment. Und deshalb wusste er, was gleich passieren würde, wenn er nicht sofort einschritt.
Ihm blieben vielleicht noch fünf Sekunden, bevor das Schwein, an das er den Jungen ausgeliefert hatte, das Wohnzimmer verließ, um ihn zu seiner Dunkelkammer in einem anderen Stockwerk zu führen.
Er irrte sich. Die beiden waren bereits nach vier Sekunden verschwunden.
12.
D er stationäre Kastenblitzer erfasste sie mit Tempo neun zig in Höhe des Waldfriedhofs. Sie bemerkte es nicht einmal, nahm aber trotzdem den Fuß vom Gas, weil der Verkehr plötzlich dichter wurde.
Was ist denn da vorne los?
In Höhe Dreilinden ordneten sich auf einmal alle Wagen vor ihr auf der rechten Spur ein.
Ein Stau? Um diese Uhrzeit?
Wenn überhaupt, hätte er auf der Gegenseite entstehen müssen, wo jetzt alle Berlinausfl ügler aus dem Umland zurück kehrten.
Sie wechselte ebenfalls auf die rechte Spur, drosselte ihre Geschwindigkeit und sah die Ursache. Ein Polizeiwagen direkt vor der Ampel an der Kreuzung verengte die Überholspur der Chaussee.
Nein, nein, nein. Bitte nicht.
Warum geriet sie ausgerechnet jetzt in eine Mausefalle? Sie näherte sich dem zuckenden Blaulicht und suchte nach den Beamten mit der Kelle am Straßenrand. Doch da war niemand, und für eine Verkehrskontrolle strömte die Wagenkolonne erstaunlich gleichmäßig voran. Die meisten bogen nach rechts zum S-Bahnhof ab, um nicht … O nein .
Tränen schossen Carina in die Augen. Sie löste beide Hände vom Steuer und presste sie vor den Mund. Hinter dem Polizeiwagen stand ein silberfarbener Kleinwagen, dessen Warnblinkanlage hinten nur noch auf einer Seite funktionierte. Borchert war weit und breit nicht zu sehen, aber trotzdem konnte kein Zweifel daran bestehen, zu wem der Corolla gehörte.
Andi hatte einen Unfall. Ist liegengeblieben. O mein Gott …
Die volle Bedeutung erschloss sich Carina erst mit Zeitverzögerung; ihr Verstand weigerte sich einige Sekunden lang, die Wahrheit zu akzeptieren. Das war keine Verkehrskontrolle. Sie wurde nicht herausgewunken oder verhaftet. Sondern etwas viel Schlimmeres geschah. Jetzt. In diesem Augenblick. Mit Simon. Irgendwo an einem Ort, den nur noch Robert kannte; Robert, der gerade auf Rettung vertraute, die niemals eintreffen würde.
Und jetzt? Was jetzt?
Carina konnte nur noch in abgehackten Satzfetzen denken. Suchte nach einem Hinweis, der ihr verraten würde, wohin
Robert und Simon verschleppt worden waren. Sie rollte langsam weiter, an dem Corolla vorbei, ließ sich von den Wagen vor und hinter ihr über die Kreuzung treiben. Sie sah in den Rückspiegel. Zwei kräftige Verkehrspolizisten setzten an, Sophies Fahrzeug von der Fahrbahn zu schieben. Auf einmal durchzuckte Carina ein Gedanke. Sie drehte sich um, starrte kurz auf den Kühler.
Das ist es! Das Auto. Die Fahrtrichtung.
Die Motorschnauze zeigte geradeaus. Richtung Potsdam. Es war nicht viel, nur ein mikroskopisch kleiner Ansatzpunkt für die weitere Verfolgung. Aber immerhin. Carina beschleunigte, nachdem sie die Kreuzung passiert hatte, angestachelt von dem Gedanken, dass sie bislang wenigstens noch keinen Fehler gemacht hatte. Sie fuhr auf der
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