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Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Stimme gab ihr ein weiteres positives Signal. Ohne auf den Gegenverkehr zu achten, riss Carina das Steuer herum und provozierte beinahe einen Frontalzusammenstoß mit einem Blumenlaster. Der Lkw-Fahrer stieg in die Bremsen und schlitterte, bedrohlich schwankend, auf die freie Nebenspur. Das wütende Hupkonzert setzte erst ein, als die Gefahr bereits wieder gebannt war und Carina die
kleine Villengasse entlangschoss.
»Ist es hier? In dieser Straße?«
»Kalt.«
Sie nahm erneut den Fuß vom Gas. Die Straßenbeleuchtung war so matt, dass sie Mühe hatte, das Schild an der nächsten Gabelung zu lesen.
»Am Kleinen Wannsee?«, entzifferte sie schließlich. »Heiß«, lobte die Stimme und gab zum ersten Mal bei diesem Gespräch eine Emotion preis. Der Mann lachte. Hausnummer? Welche Hausnummer?
Carina überlegte sich die nächste Ja-Nein-Frage, mit der sie sich dem Ziel und damit Simons Rettung nähern konnte. »Über hundert?«
»Heiß.«
»Hundertfünfzig?«
»Kalt.«
Sie brauchte noch sieben weitere Anläufe, bis sie vor dem vierstöckigen Prachtbau mit der Nummer 121 stehenblieb. 15.
D ie wichtigste Regel, um einen aussichtslosen Prozess ge gen einen übermächtigen Kontrahenten zu gewinnen, hatte Stern nicht an der juristischen Fakultät, sondern von seinem Vater gelernt.
»Findet die Schwäche in der Stärke des Gegners. Nutzt seinen größten Vorteil gegen ihn« hatte dessen Standardansprache als ehrenamtlicher Fußballtrainer der B-Jugend des
Bezirksvereins immer gelautet.
Robert fragte sich, ob ihm diese Maxime auch heute helfen würde, wo es nicht um Tore, Pässe oder Manndeckung, sondern um sein Leben ging. Während er barfuß und mit nacktem Oberkörper aus dem Wohnzimmer befohlen wurde, analysierte er gedanklich seine Ausgangsposition. Sie war desaströs. Die Frau hatte gleich mehrere Trümpfe auf ihrer Seite. Den größten, eine Neun-Millimeter-Pistole, hielt sie in ihrer Hand. Zudem schien die Villa hermetisch abgeschottet, soweit Stern es überblicken konnte. Natürlich waren in einem leerstehenden Maklerobjekt alle Türen und Fenster verschlossen und mehrfach gegen Einbrecher gesichert. Selbst wenn er seinen Abstand nutzen und den Gang hinunter zum Hinterausgang fl üchten könnte, wäre es äußerst unwahrscheinlich, hier auf eine offene Tür oder ein barrierefreies Fenster zu stoßen.
Großer Abstand, Waffe im Rücken, eingeschlossen wie in
einem Container – wo liegt die Schwäche in ihrer Stärke?
Sterns Nackenmuskeln zogen sich zusammen, wie immer, wenn er über einem unlösbaren Fall grübelte. Am Schreibtisch in seiner Kanzlei war das immer ein untrüglicher Vorbote einer nahenden Migräne gewesen.
Hier, das wusste er, würden bald noch viel größere Schmerzen auf ihn warten.
Die frisch abgezogenen Eichenholzdielen knarrten müde, als Stern die ersten Stufen der Treppe nahm. Die Musik oben wurde mit jeder Stufe lauter, nur die schleifenden Schritte hatten aufgehört.
Er tanzt nicht mehr.
Stern verbot sich, an das zu denken, was der Mann stattdessen tat. In dem Zimmer. Mit Simon.
»Nicht umdrehen«, schnarrte die Frau, als er nur ansatzwei se langsamer wurde und über seine Schulter zurücksah. Doch er hatte nichts erkennen können. Stern wusste nicht, wie weit sie von ihm entfernt stand. Oder ging. Ihrer Stimme nach hätte sie ihm gefolgt oder auch am Fußende der Treppe stehengeblieben sein können. Alles, was er im Augenblick sah, waren ein heller Lichtstreifen und verschwommene Konturen. Denn leider hatte sein Blick einen der Halogenstrahler getroffen, die von unten her das gesamte Treppenhaus in unnatürlich weißes Licht tauchten, das zusätzlich auch noch von den nackten cremefarbenen Wänden refl ektiert wurde. Stern musste zweimal blinzeln, um die Schattenbilder wieder wegzuwischen, die vor seinen Augen tanzten …
Und dann sah er die Lösung auf einmal vor sich. Ihre Schwäche. Er befand sich jetzt etwa in der Mitte der geschwungenen Treppe und näherte sich einer ganz einfachen Möglichkeit, das Blatt zu wenden. Das Problem war nur, dass er sich nicht sicher war, ob es auch funktionierte. Er konnte es nur hoffen.
Musste riskieren, etwas auszuprobieren, was sich womöglich als sein größter und damit letzter Fehler herausstellen konnte.
16.
C arina stieg aus dem Wagen und suchte um das vor ihr lie gende Gebäude herum nach Lebenszeichen.
»Hier?«
Sie sah nach oben. Ein sechseckiges Haubendach wölbte sich wie die Perücke eines englischen Richters über die weizengelbe, frisch

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