Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
restaurierte Gründerzeitvilla. In keinem Stockwerk brannte Licht. Überall waren Jalousien heruntergelassen oder Fensterläden geschlossen. »Heiß«, antwortete die Stimme, und sie versuchte, das Gleichgewicht auf ihren gefühllosen Beinen zu halten, während sie zu der schmiedeeisernen Gartentür ging. Zu ihrem Erstaunen war sie nicht abgeschlossen.
Und jetzt?
Sie öffnete den Reißverschluss der kleinen Kunststofftasche vor ihrem Bauch, die zu ihrer Jogger-Verkleidung gehörte. Zwischen Simons Medikamenten, etwas Bargeld und einigen Gegenständen, die sie für Stern aufbewahren sollte, steckte auch noch die Röhm RG 70. Borcherts »Geschenk«. »Für den Notfall«, hatte er gesagt. »Klein und niedlich. Wie geschaffen für zarte Frauenhände.«
Ein unwirkliches Gefühl beschlich sie, als sie den Kiesweg des Anwesens hochlief. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie eine Waffe in die Hand genommen. Und schon gar nicht in der Absicht, sie womöglich gegen Menschen zu richten.
»Ist offen?«, fragte sie, als sie die verschnörkelte Eingangstür erreicht hatte.
Zum ersten Mal erhielt sie keine Antwort. Sie drückte vorsichtig gegen das unnachgiebige Holz. Abgeschlossen. Ver riegelt.
Carina drehte sich um, doch in dem schummrigen Zwielicht der alten Straßenlaternen war niemand zu erkennen. Kein Passant. Kein Verfolger. Nichts außer dem Verkehrsrauschen der nahen Königstraße.
»Wie komm ich rein?«, fragte sie den Unbekannten am anderen Ende. »Durch den Hintereingang?«
Wieder keine Antwort. Nur ein heiseres Atmen. Sie sah zu der Tiefgarageneinfahrt am rechten Flügel der Villa, bemerkte die frischen Reifenspuren im nassen Laub und sprach jetzt mit dem Rücken zur Haustür: »Die Garage? Ist es das? Soll ich es durch die Garage versuchen?« Die Stimme blieb stumm. Auch das Atmen hatte aufgehört. »Verdammt«, sprach sie zu sich selbst. Ich hab keine Zeit zu verlieren. Ich kann jetzt nicht das Gelände absuchen, wäh-
rend Simon da drinnen womöglich gequält wird, und …
Sie presste ihre Hand um den harten Pistolengriff, während ihr linker Zeigefi nger den Messingklingelknopf berührte. Sie war keine Detektivin, kein ausgebildeter Polizist. Auf diesem Terrain war sie sowieso verloren. Sie konnte nicht gewinnen. Höchstens stören …
»Ich klingele jetzt«, sagte sie in den Hörer und drückte zu. »Kalt«, antwortete eine sonore Stimme direkt neben ihrem Kopf.
Zuerst spürte sie eine gleißende Explosion genau zwischen den Schläfen. Und dann gar nichts mehr.
17.
J ede Stufe war eine Qual. Denn mit jedem seiner Schritte
kam er seinem möglichen Ende näher. Doch hier ging es nicht um ihn. Sein Tod wäre nur eine Randnotiz im Lokalteil der Boulevardblätter. Zu Recht. Denn die viel bedeutendere Tragödie spielte sich nur wenige Meter entfernt in dem Zimmer ab, aus dem unvermindert laut die italienische Oper schallte.
Und es ist ausschließlich meine Schuld , dachte Stern.
Er täuschte eine leichte Gleichgewichtsstörung vor und stütz te sich kurz an der Wand zu seiner Linken ab. »Na? Schwächeln Sie schon, bevor es richtig losgeht?« Okay, sie ist direkt hinter mir. Nur wenige Stufen. Vermut-
lich will sie nicht, dass ich oben um die Ecke aus dem Schuss-
feld biege.
Stern überlegte, dass es gleich sehr schnell gehen musste. Also würde er sich weiter links halten. Weg vom Geländer. Nur noch fünf Stufen.
Der Vorraum zum Flur, in den die Treppe mündete, wurde immer deutlicher sichtbar. Auch der Terrakottakübel mit dem Kunstfarn direkt oben neben dem Geländer sah zunehmend imposanter aus, je näher Stern ihm kam. Oft haben die einfachsten Tricks den größten Effekt, drang
eine weitere Lebensweisheit seines Vaters in sein Bewusstsein. Ob ihm sein simples Vorhaben gleich gelingen würde, hing einzig und allein von vier schlichten Quadraten aus Plastik ab.
Noch zwei Stufen.
Er streckte vorsichtig die Finger seiner Hand aus. Wie ein Verwundeter, dem man nach langer Zeit den Verband ab nimmt, spürte er das Blut in die Fingerspitzen schießen. Lieber hätte er mit rechts zugepackt, aber das wäre zu auffällig gewesen.
Noch eine Stufe.
Er übersah jetzt den gesamten Vorraum, in dem außer einem braunen Beistelltisch, auf dem ein aufgefächerter Immobilienprospekt lag, nichts von Wert vorhanden war. Auch keine Fenster. Zum Glück!
Stern nahm die letzte Stufe, als würde er auf eine bröckelnde Eisscholle treten. Er kämpfte den Drang nieder, nach hinten zu sehen, hielt die Luft an, konzentrierte sich

Weitere Kostenlose Bücher