Das Kind
richtigen Straße, in die richtige Richtung. Die irrationale Hoffnung gab ihr Auftrieb, doch nur für zirka zweihundert Meter. Und jetzt?
Carina schoss an der Straße zum Großen Wannsee vorbei, ohne zu wissen, ob sie damit die Spur verlor. 13.
A us dem Krankenhaus entführt? Was hat denn der arme
Kleine?«
Die zynische Frau klang wie eine besorgte Tante, während sie Stern weiterhin mit der Waffe in Schach hielt. »Der Junge ist doch nicht etwa infi ziert?«
Unfähig zu antworten, starrte Robert immer noch auf den
leeren Türrahmen, durch den Simon mit seiner lüsternen Begleitung verschwunden war. Er atmete tief aus und wollte die Luft anhalten.
Allein die Vorstellung, mit dieser Frau die gleiche Luft zu teilen, womöglich mit jedem Atemzug etwas von dem einzusaugen, was ihr Mund zuvor ausgestoßen hatte, war ihm völlig unerträglich.
»Ihnen ist schon klar, dass wir für mangelhafte Ware nichts bezahlen, oder?« Das Gesicht hinter der Sonnenbrille lachte kehlig und zündete sich eine neue Zigarette an. Stern hörte Schritte auf der Treppe. Knirschende Lederslipper übertönten das sanfte Quietschen von Simons Turnschuhen. Die Geräusche entfernten sich, wurden immer leiser. »Na, na, na, nicht bewegen.« Die Frau streckte ihren Arm mit der Waffe vor. »Es dauert nicht lange. Nur fünfundvierzig Minuten. Dann macht mein Mann die erste Pause, und ich bin dran.«
Sie formte mit ihren dunkelbraun geschminkten Lippen einen Kussmund.
Stern wurde speiübel, und er sah an die Decke. Die Schritte waren jetzt direkt über ihren Köpfen.
»Gleich geht’s los.« Die Lippen der Frau verzogen sich zu einer Fratze, die vermutlich ein Lächeln darstellen sollte. Als Nächstes hörte man klassische Musik aus dem ersten Stock. Der Kinderschänder musste ein Opernliebhaber sein. Stern erkannte Melodiefetzen aus La Traviata . Und zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, Verdi hätte die Arien der Violetta niemals komponiert.
»Na gut.« Sie sah auf die Uhr. »Nutzen wir die Zeit doch für einen kleinen Plausch. Raus mit der Sprache: Was wollen Sie wirklich von uns?«
»Ist das nicht offensichtlich?« Stern hoffte, sie würde das
Zittern in seiner Stimme nicht bemerken. Die Sopranistin über ihnen legte an Dynamik zu.
»Sie haben einen Jungen bestellt. Ich habe ihn geliefert.« »Blödsinn.«
Sie war klug. Sie machte nicht den Fehler, sich ihm zu nähern. Aus dieser Entfernung konnte sie ihr gesamtes Magazin auf ihn abfeuern, und er hätte noch nicht einmal die halbe Strecke zwischen ihr und seiner Couch zurückgelegt. Die einzigen Waffen, die er ihr noch entgegenhalten konnte, waren seine Stimme und sein Verstand. Beides drohte ihn gerade im Stich zu lassen.
Wo zum Teufel bleibt Borchert?
»Sie sind kein Spitzel, sondern werden selbst von der Polizei gesucht. Sie verkehren nicht in unseren Kreisen. Und wie ein Anwalt benehmen Sie sich auch nicht. Warum also haben Sie sich auf unsere Anzeige gemeldet?« »Ich kann Ihnen alles erklären«, log er. In Wahrheit hatte er keine Ahnung, was er sagen oder tun konnte, um die Gefahr abzuwenden. Über sich hörte er wieder Schritte. »Ich höre?«
Stern suchte fi eberhaft nach einer plausiblen Antwort. Fragte sich, welchen Ausweg es noch gab, während für Simon oben die Zeit knapp wurde. Äußerlich versuchte er ruhig zu bleiben. Innerlich war er auf Flucht programmiert. Doch da war kein Notausgang aus dieser verzweifelten Lage. Wenn er jetzt aufstand, war er tot.
»Na was? Sind Sie plötzlich stumm geworden? Es ist doch eine ganz einfache Frage. Warum haben Sie ein Kind aus einem Krankenhaus entführt und es zu uns gebracht?« Robert fi el auf, dass das Stampfen über seinem Kopf einen bestimmten Rhythmus annahm. Der Irre tanzte! Und mit dem Takt der schleifenden Bewegungen löste sich plötzlich
ein Gedanke. Stern konnte es zunächst noch nicht richtig greifen, aber dann war es auf einmal ganz klar. Es gab etwas, was er tun konnte. Etwas zutiefst Widerliches und Abartiges, wofür er sich später selbst hassen würde. Er nickte wie jemand, dem eine Idee gekommen ist, und hob langsam die Hand. Sachte, behutsam. So, dass er keine gewaltsame Reaktion der Frau provozierte.
»Was machen Sie da?«
»Ihre Frage beantworten. Ich zeige Ihnen, was ich hier will.«
Die Frau zog ihre linke Augenbraue so weit hoch, dass sie über dem Rand der Sonnenbrille zum Vorschein kam. Stern hatte sich seine rechte Hand auf die Brust gelegt. Er begann damit einen Knopf seines Oberhemdes zu öffnen.
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