Das Kind
Blut aus dem Gesicht.
»Und wie fühlst du dich?«, fragte er, während er vorsichtig die Umgebung des pulsierenden Blutergusses auf der Stirn betupfte.
»Geht so.« Simon hustete unterdrückt.
»Es tut mir so leid, so wahnsinnig leid«, wiederholte Stern bestimmt schon zum achten Mal, seitdem sie die Villa hinter sich gelassen hatten. »Aber ich werde es wieder gutmachen. Ich schwöre es.«
»Ist doch nichts passiert«, antwortete Simon müde. Stern schaltete das Deckenlicht des Fahrzeuges an, um ihn besser sehen zu können. Die Augenlider des Jungen fl atterten leicht, und er musste gähnen. Stern hatte keine Ahnung, ob das nach den Ereignissen des Tages ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
»Brauchst du irgendetwas? Wasser? Deine Medikamente?« »Nein, ich bin nur müde.« Simon hustete wieder. Sein linkes Bein zitterte ein wenig, was Stern während der Fahrt hierher nicht aufgefallen war.
»Schaffst du den Weg bis zu den Glastoren alleine?« »Klar.« Simon öffnete die Beifahrertür und zögerte. »Ich würde aber lieber bei dir bleiben.«
Stern schüttelte den Kopf, und selbst das tat ihm weh. »Tut mir leid.«
»Aber vielleicht brauchst du mich ja?«
»Komm mal her.« Stern zog Simon zu sich heran und ignorierte seinen schreienden Rücken, als er ihn so fest drückte,
wie es eben nur ging.
»Ja, ich brauch dich. Sehr sogar. Und deshalb ist es ganz wichtig, dass du genau das tust, was ich dir gesagt habe, okay? Du gehst jetzt rein ins Krankenhaus und meldest dich sofort auf deiner Station, hast du gehört?« Simon nickte in seinen Armen. »Ist gut. Und was machst du jetzt?« Der Kleine sprach dumpf in Roberts Oberhemd hinein.
»Ich werde den Fall lösen.«
Simon rückte etwas ab und sah zu ihm auf. »Echt?« »Echt!«
»Das heißt, ich muss morgen doch niemandem wehtun?« »Musst du nicht.«
»Das will ich nämlich gar nicht.«
»Ich weiß.« Robert strich Simon eine Haarsträhne hinter die Ohren und lächelte matt. »Schaffst du das wirklich allein?«, fragte er noch einmal.
»Ja, mir geht’s gut. Hab nur noch Halskratzen.« »Und das Zittern in deinem Bein?«
»Nicht so schlimm. Außerdem bekomm ich doch gleich was dagegen.«
Simon war bereits mit einem Fuß ausgestiegen, da legte ihm Robert noch einmal die Hand auf die Schulter. »Erinnerst du dich noch an den schönsten Ort der Welt?«, fragte er. »Was du zu Doktor Tiefensee gesagt hast, als er dich in seiner Praxis fragte?«
»Ja.« Simon lächelte.
»Wir werden zu diesem Strand fahren, okay?«, gab er ihm noch mit auf den Weg. »Wenn das alles vorbei ist. Du, Carina und ich. Und dann gibt es das größte Eis des Universums, ja?«
Simon lächelte noch breiter und winkte ihm zu, bevor er
sich entfernte. Es waren nur wenige Meter über den Parkplatz bis zum Eingang der Klinik, doch Stern verfolgte jeden einzelnen kleinen Schritt des Jungen mit nahezu hypnotischem Blick. Er startete den Motor. Nicht um wegzufahren, sondern um im Notfall in Sekundenschnelle zu ihm durchstarten zu können. Natürlich lauerten hier auf dem Gelände der Seehausklinik keine Gefahren wie die, denen der Junge in den letzten Stunden ausgesetzt gewesen war. Doch Sterns Angst ebbte erst ab, als Simon hinter den Schiebeglastüren im Bauch des Klinikgebäudes verschwunden war.
Er sah auf die Uhr und legte den Rückwärtsgang ein. Es war achtzehn Uhr sechsundvierzig. Er musste sich beeilen, wenn er nicht zu spät zum Volksfest kommen wollte. 24.
O kay, jetzt ist er da. Was soll ich tun?«
Der bärtige Mann in der Krankenhauscafeteria rührte den Schaum in seinem Latte macchiato um und beobachtete dabei, wie der Junge zu den Fahrstühlen ging. »Simon will wohl direkt auf seine Station gehen«, informierte er weiter sein Handy und zog den langen Kaffeelöffel aus dem Glas, um ihn abzulecken. Doch dann kam Bewegung in ihn.
»Moment mal.« Er unterbrach die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Gerade haben sie ihn erkannt. Ein Arzt. Ja, er spricht mit Simon. Schätze, hier wird gleich die Hölle los
sein.«
Er löste seine riesigen Hände von dem geriffelten Kaffeeglas und stand auf, um den Pulk aus Pfl egern, Schwestern und Ärzten besser sehen zu können, der sich langsam um Simon herum bildete. Rufe wurden laut. Das Krankenhaus summte vor hektisch aufbrandender Aktivität.
»Wirklich? Sind Sie sich sicher?«
Die aufgeregten Stimmen vor den Fahrstühlen wurden lauter, und der Mann hatte Mühe, sich auf die Instruktionen, die er über das Telefon erhielt, zu konzentrieren. Er
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