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Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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bat seinen Gesprächspartner, etwas lauter zu sprechen. Schließlich hatte er alles verstanden und grunzte zustimmend. »Alles klar, wird erledigt.«
Picasso legte auf und ließ sein Kaffeegetränk unberührt stehen.
25.
D iiiihouhhhh Pffffffaaaaarrrrrrr….«
Die Buchstaben schwammen in ihren Ohren. Unnatürlich gedehnt, wie von einem viel zu langsam abgespielten Tonband, setzten sie sich zu unverständlichen Worten zusammen.
Wo bin ich? Was ist geschehen?
Carina fühlte sich, als säße sie auf einer Waschmaschine, die sich in der letzten Phase des Schleudergangs befand. Die harte Bank unter ihr ruckelte heftig. Hin und wieder wurde 277
    sie von einer unsichtbaren Kraft nach vorne gedrückt und
nur einen Augenblick später wieder zurück an die harte Lehne gepresst.
Sie blinzelte fi ebrig, und ihr wurde schlagartig übel. Als atmete sie nicht durch die Nase, sondern durch die Augen, registrierte sie erst jetzt den Gestank um sich herum. Alkohol. Erbrochenes.
Sie hielt ihre Lider mühsam offen und konnte trotzdem nichts erkennen. Nichts, was ihr plausibel erklärte, was mit ihr geschehen war.
Ein hagerer Mann mit zimtbraunem Seitenscheitel und Oberlippenbart bückte sich zu ihr herab. Er hielt ihr eine Plastikkarte entgegen, als wolle er sich ausweisen. »Wasch … issss … mit mir passiert? «, bemühte sie sich zu sagen. Aber ihre eigenen Worte klangen noch unverständlicher als die des Fremden mit dem strengen Gesicht. Der Mann klang unhöfl ich, sprach jetzt etwas lauter zu ihr, und diesmal verstand sie endlich, was er sagte. Wenn auch nur akustisch. Die eigentliche Bedeutung seines mürrischen Befehls blieb ihr verschlossen.
»Die Fahrkarten bitte.«
»Was? Wie?«
Carina drehte den Kopf und blickte mit großer Kraftanstrengung seitlich an dem Kontrolleur vorbei. Ihr gegenüber stand noch eine Bank. Sie war leer, bis auf die Rentnerin. Die musterte Carina angewidert und rollte geringschätzig die Augen, bevor sie sich wieder in einer Illustrierten vertiefte. »Ich, ich hab … ich weiß noch …«
Carina roch, dass sie selbst die Quelle des Gestanks war. Billiger Rotwein. Die Flecken waren über und über auf dem Sweatshirt ihres Jogginganzuges verteilt. Wie kann das sein?
Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war diese grauenhafte
Stimme gewesen. Kalt.
Und dann die Gewissheit, in einen ewigen, traumlosen Schlaf zu fallen. Aber jetzt?
Sie fasste sich an ihre hämmernde Schläfe und stellte verwundert fest, dass sie keine Wunde ertasten konnte. Noch nicht einmal eine Beule.
»Wird’s bald, oder sollen wir Sie mitnehmen?« Die Sekunden verstrichen, und immer mehr Einzelheiten ihrer Umgebung fügten sich zu einem merkwürdigen Gesamtbild zusammen. Die zerkratzten Fenster, die fl ackernde Neonröhre über ihrem Kopf, die Haltegriffe. Sie begriff sehr wohl, wo sie war, doch sie verstand es nicht. Ebenso gut hätte sie auf einer Eisscholle in der Antarktis aufwachen können. Das S-Bahn-Abteil, in dem sie durch die Berliner Nacht ratterte, war für sie genauso irreal.
»Ich dachte, ich bin tot«, sagte sie zu dem Kontrolleur, was dem Mann ein schwaches Grinsen entlockte. »Nee, du siehst nur so aus.«
Er griff nach ihrer rechten Hand, die sie nicht schnell genug zurückziehen konnte, und nahm ihr etwas aus den Fingern. »Da haben wir ihn ja.« Er kontrollierte den Stempel auf dem Fahrschein und war offensichtlich zufrieden. »Das hab ich selten erlebt. Zu blöd zum Saufen, aber ein Ticket ziehen.«
Er gab ihr das Billett mit der Empfehlung zurück, es nächstes Wochenende etwas ruhiger angehen zu lassen. Dann zog er weiter.
Der Zug verlangsamte seine Fahrt und tauchte unter das Dach eines schwach beleuchteten Bahnhofs, dessen Schilder noch altdeutsche Schriftzeichen zierten: S-Bahnhof Grunewald.
Wir sind nur zwei Stationen vom Wannsee entfernt.
Carina stand auf, bemerkte, wie die anderen Fahrgäste ihr Platz machten, als ginge eine ansteckende Krankheit von ihr aus, und torkelte auf den Bahnsteig.
In ihrem Kopf summte es wie in einem Bienenstock. Die »Stimme« musste ihr einen Elektroschocker an den Kopf gehalten, sie mit Fusel übergossen und wie eine Obdachlose in der S-Bahn ausgesetzt haben.
Aber warum?
In der klaren Luft belebten sich ihre Sinne, doch das führte nur dazu, dass die Angst wieder stärker wurde. Die Frage war ja nicht, was mit ihr, sondern was mit Simon passiert war. Und mit Robert.
Sie blieb neben dem verlassenen Wartehäuschen mitten auf dem Weg zur Treppe stehen und ließ die wenigen

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