Das Kind
Scheibe hinterlassen hatte. Alles, was der Alte erkennen konnte, waren die gefesselten Hände, die in diesem Moment gegen sein Fenster hämmerten.
Er zuckte erneut zusammen, überlegte, wo er seine Harpune verstaut hatte, mit der er sich zur Not verteidigen wollte, und erkannte seinen Irrtum schließlich, als er ein Rufen hörte.
»Hallo? Bist du da?«
Auch wenn er nicht glauben konnte, dass die vertraute Stimme zu dieser verunstalteten Visage gehören sollte, war an einer Tatsache nicht zu rütteln: Der Kerl da draußen war kein Fremder. Im Gegenteil.
Der Alte schlurfte aus der kleinen Küche hinaus zum Hintereingang des Wochenendhäuschens.
»Du bist zu spät«, schnauzte er, als er die verkeilte Tür endlich aufgezogen hatte. »Wie immer.«
»Tut mir leid, Papa.« Das geschundene Gesicht kam näher. Der Mann zog ein Bein nach und hielt seinen gesamten Oberkörper merkwürdig steif.
»Was ist denn mit dir passiert? Bist du vor einen Bus gelaufen?«
»Schlimmer.«
Robert Stern ging an seinem Vater vorbei ins Wohnzimmer und konnte gar nicht glauben, wer hier auf ihn wartete.
29.
W as machst du denn hier?«, schaffte er gerade noch zu
fragen, bevor der Boden der Laube sich auf einmal gegen den Uhrzeigersinn unter ihm wegdrehte. Das Letzte, was er hörte, war ein abgehackter Aufschrei, gefolgt von splitterndem Porzellan. Dann sackte Stern in sich zusammen und schlug genau neben den Scherben der Kaffeetasse auf, die der Frau bei seinem Erscheinen vor Schreck aus der Hand gefallen war.
Als er wieder zu sich kam, wusste er weder, wo er sich befand, noch warum Carina sich mit angstgeweiteten Augen über ihn beugte. Eine lockige Strähne ihres langen Haares tanzte wie eine Feder auf seiner Stirn, und Robert wünschte sich diese zarte Berührung am gesamten Körper. Doch stattdessen trieb ihm der Schmerz die unangenehmen Erinnerungen ins Gedächtnis zurück, als er seine Nackenmuskeln anspannte und den Kopf anheben wollte.
»Simon?«, krächzte er. »Weißt du …«
»In Sicherheit«, fl üsterte sie erstickt. Eine Träne fi el aus ihrem blassen Gesicht. »Ich hab mit Picasso telefoniert. Sie haben eine Wache vor seinem Zimmer sitzen.« »Gott sei Dank.« Stern zitterte plötzlich am gesamten Körper.
»Wie spät ist es?« Er hörte einen Wasserkessel in der Küche pfeifen, was ein gutes Zeichen war. Wenn sein Vater nebenan noch immer mit der Teekanne hantierte, konnte seine Ohnmacht nicht lange gedauert haben.
»Kurz vor halb neun«, bestätigte Carina. Er beobachtete, wie sie sich mit dem Handrücken über die Augen fuhr. Dann griff sie zu einem Messer, das sie schon
bereitgelegt haben musste, und befreite ihn mit zwei kurzen Schnitten von seinen Fesseln.
»Danke. Hast du was von Sophie gehört? Weißt du, wie es den Zwillingen geht?« Seine Zunge schien zu einem Tennisball angeschwollen.
»Ja. Sie hat mir eine SMS geschickt. Irgendein Nachbar muss uns heute Morgen gesehen und die Polizei informiert haben. Sie durchsuchen gerade ihr Haus.«
Sterns Magen entkrampfte sich etwas. Wenigstens waren die Kinder außer Gefahr.
»Wir können hier nicht bleiben.«
Robert hielt inne, als er graugrüne Filzpantoffeln in sein Gesichtsfeld wandern und neben seinem Kopf zum Stehen kommen sah. Er biss die Zähne zusammen, presste beide Handballen in die zerschlissene Auslegeware und stemmte seinen Oberkörper hoch.
»Erst zu spät kommen und gleich wieder abhauen, schon klar.« Hätte Robert eine Münze in die Zornesfalten auf der Stirn seines Vaters gesteckt, sie wäre nicht zu Boden gefallen. Georg Stern hatte die letzten Worte seines Sohnes aufgeschnappt, als er mit der dickbauchigen Teekanne ins Zimmer kam, die er jetzt wütend auf einen Metalluntersetzer knallte. »Wundert mich, ehrlich gesagt, nicht im Geringsten.«
»Du hast ihm nichts erzählt, oder?«, fragte Robert Carina, die aussah, als hätte sie Ähnliches durchgemacht wie er. Überdies roch sie wie eine Bahnhofskneipe. »Nein, nicht direkt. Nur dass wir in Schwierigkeiten sind und ein Versteck brauchen.«
»Aber woher wusstest du, dass …?«
»Ja. Schwierigkeiten«, unterbrach ihn sein Vater wütend. »Das ist es mal wieder, Robert, oder? Wenn’s was zu feiern gäbe,
wärst du wohl kaum damit zu mir gekommen.« »Entschuldigen Sie mal, bitte …«
Stern zog sich an der Sitzbank hoch, während Carina sich drohend vor seinem Vater aufbaute.
»Sehen Sie nicht, dass Ihrem Sohn etwas zugestoßen ist?« »O doch. Das sehe ich sehr wohl. Bin ja nicht blind, Schätzchen. Im
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