Das Kind
sich noch einmal zornig zu Wort, als er sich aufrichten wollte, um sie abzuhalten. Dann zogen sie sich wie ein schmollendes Kind in eine hintere Ecke seines Bewusstseins zurück, wo sie gemeinsam mit seinen drückenden Ängsten und Sorgen in Warteposition blieben.
Stern entspannte sich, fast gegen seinen Willen. Er öffnete
die Lippen, schmeckte ihren süßen Atem in seinem Mund und seine eigenen Tränen, die Carinas Zunge aufgesammelt haben musste. Das Pfeifen des Windes, der an der Außenhaut des Caravans riss, verwandelte sich zu einer angenehmen Melodie. Stern wollte an Felix denken, an den Jungen mit dem Feuermal und an einen Plan, der ihre unwirklichen Probleme lösen würde, doch er schaffte es noch nicht einmal mehr, den Fehler zu bereuen, der ihn und Carina jahrelang voneinander getrennt gehalten hatte. Für wenige Stunden verwandelte sich das Wohnmobil in einen Kokon, der sie beide vor einer Welt abschirmte, die völlig aus den Fugen geraten war.
Leider hielt der Zustand trügerischer Sicherheit nicht lange an. Als ihn um kurz vor fünf ein Gewittergrollen in die Realität zurückriss, kämpfte Carina in ihren Träumen noch gegen irgendwelche unsichtbaren Gegner. Er wand sich aus ihrer unruhigen Umklammerung, zog sich an und setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hinter das Steuer des Wohnmobils. Als er zwanzig Minuten später vor dem Parkplatz der Seehausklinik stoppte, schlug sie die Augen auf, streckte sich, stand auf und kam langsam zu ihm nach vorne. »Was wollen wir hier?«, fragte sie ihn. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und starrte nach draußen. Ihre Stimme klang hellwach. Als hätte man ihr ein kaltes Glas Wasser ins Gesicht gekippt.
»Du steigst hier aus.«
»Auf gar keinen Fall. Ich komme mit.«
»Nein. Es macht keinen Sinn, wenn wir beide draufgehen.« »Und was soll ich hier? «
Stern hatte alles genau durchdacht, und am Ende war ein Plan dabei herausgekommen, der so lächerlich war, dass er
die stolze Bezeichnung gar nicht verdiente. Er erklärte es ihr. Sie protestierte, wie erwartet. Doch am Ende sah sie ein, dass ihnen keine andere Möglichkeit blieb. Wenn überhaupt.
Robert spürte ihren Widerwillen, als er sie ein letztes Mal an sich zog. Er wusste, dass ihr nicht der Kuss, sondern seine Bedeutung zuwider war. Nachdem sie sich gestern nach so langer Zeit wiedergefunden hatten, besiegelte er jetzt, nur Stunden später, eine Trennung, die diesmal vermutlich länger andauern würde als die verlorenen drei Jahre zuvor. Vermutlich eine Ewigkeit.
Die Wahrheit
Ich bin gewiss, wie Sie mich hier sehen, schon tausendmal dagewesen und hoffe wohl noch tausendmal wiederzukommen.
Johann Wolfgang von Goethe
Und wie es den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht.
Hebräer 9:27
Vergebung ist eine Angelegenheit zwischen dem Sünder und Gott. Ich bin nur hier,
um das Treffen zu arrangieren.
Denzel Washington in »Man on Fire«
This could be the end of everything
So why don’t we go
Somewhere only we know?
Keane
1.
S tern hatte in den letzten Stunden viel gesehen: Leichen mit
eingeschlagenen Schädeln, Tote in Arztpraxen und in Kühlschränken. Menschen waren vor seinen Augen zusammengeschlagen, erhängt und hingerichtet worden. Er hatte den Anblick eines Kindes ertragen müssen, das verzweifelt versuchte, durch eine Plastiktüte zu atmen, während ein nackter Mann vor ihm durch das Zimmer tanzte. Sein Weltbild war dabei aus dem Rahmen gerissen worden. Der knallharte Paragraphenreiter hatte sich zu einem Skeptiker verwandelt, der die Möglichkeit einer Wiedergeburt nicht mehr kategorisch ausschließen mochte, seit er von Simon von einem unerklärlichen Phänomen zum nächsten geführt wurde. Mord, Erpressung, Kindesmissbrauch, Flucht und unvorstellbare Schmerzen. All das hatte Stern auf sich genommen, um zu erfahren, was mit seinem Sohn geschehen war. Und dennoch hatten sich einige Etappen seines Wochenendes gar nicht so gravierend von den Beschäftigungen der meisten anderen Berliner unterschieden: Er war im Zoo spazieren gegangen, hatte in einer Diskothek getanzt und auf dem Volksfest einige Runden im Riesenrad gedreht. Und auch sein nächstes Ziel stand als Ausfl ugstipp in verschiedensten Stadtmagazinen. Allerdings wurden dort deutlich andere Anfahrtsstrecken und Öffnungszeiten empfohlen. Der Weg, den Robert eine Stunde vor Sonnenaufgang einschlug, führte ihn durch die ölige, regenund sturmgepeitschte Dunkelheit des Berliner Grunewalds. Er hatte den Cara van
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