Das Kind
dem Avus-Motel, direkt an der
belebten Stadtautobahn, war angesichts der geringen Zeit, die ihnen verblieb, der bestmögliche Zufl uchtsort für die Nacht. Hier, in der Nähe des Messegeländes, standen zu jeder Jahreszeit viele Lastwagen und auch Wohnmobile auf dem kostenlosen Parkplatz. Ein Fahrzeug mehr oder weniger würde also kaum auffallen.
»Das ist eine Falle«, sagte Carina, während sie zwei Haltebuchten entfernt von einem kleinen Umzugslaster anhielten.
Auf dem kurzen Weg hierher hatten sie es kaum geschafft, sich über das Nötigste auszutauschen.
»Du darfst morgen nicht zur Brücke. Auf keinen Fall.« Stern wälzte sich mit verzerrtem Gesicht mühsam aus dem Beifahrersitz und stieg nach hinten. Er hatte mehrere Pillen aus dem Täschchen seiner Mutter geschluckt, und langsam setzte die betäubende Wirkung der Opiate ein. Völlig kraftlos legte er sich im hinteren Teil des Wohnmobils in eine erstaunlich bequeme Koje. Carina zog die Handbremse an, stellte den Motor ab und stieg aus der Fahrgastzelle zu ihm nach hinten.
»Mir bleibt keine andere Wahl.« Stern hatte alle Optionen bereits durchgespielt. »Ich kann mich nicht mehr stellen.« »Wieso?«
»Dafür ist es jetzt zu spät. Ich hätte vorhin einfach in Englers Auto sitzen bleiben sollen, anstatt zu fl iehen. Noch dazu mit seiner Dienstwaffe! Aber in dem ersten Schock dachte ich nur noch an Flucht. Ich dachte, sie werden mir nie glauben, dass ich mich allein mit Engler getroffen habe und dann
auch noch als Einziger einen Anschlag überlebe.« »Womit du ja auch recht haben könntest.« »Außerdem muss es einen Insider geben. Die ›Stimme‹ ist über jeden unserer Schritte informiert. Wenn ich jetzt zur Polizei gehe, wird er seine Pläne ändern. Er wird das Treffen abblasen, untertauchen, und ich werde niemals wissen …« …was mit Felix geschah, dachte Stern mutlos.
»Vielleicht hat er das schon getan?«
Carina setzte sich zu ihm aufs Bett und öffnete seinen obersten Hemdknopf, dann befahl sie ihm, sich aufzusetzen. »Das Treffen abgesagt? Möglich. Er weiß sicher schon, dass ich noch am Leben bin. Aber er weiß nicht, ob ich die Adresse der Brücke herausgefunden habe. Außerdem will er den Rächer unbedingt stellen. Er wird das Ding durchziehen, solange ihn seine Quellen bei der Polizei nicht davor warnen. Und bislang haben sie dazu keinen Grund. Ich habe bisher nur mit Engler gesprochen, und der ist tot.« Stern schälte sich wie eine Schlange aus dem durchgeschwitzten Baumwollstoff seines Oberhemdes und legte sich auf den Bauch. Er hörte, wie Carina geräuschvoll die Luft einsog, als sie die massiven Prellungen um die Wirbelsäule erkannte. Dann spürte er plötzlich eine unangenehme Kälte oberhalb der Lendenwirbel und verspannte sich. »Tut mir leid. Die Salbe kühlt am Anfang, es wird aber gleich sehr warm werden.«
»Hoffentlich.«
Er wollte sich vor Carina keine Blöße geben, aber im Moment hätte er sogar schreien können, wenn sich ein Schmetterling auf seinen Rücken gesetzt hätte. »Lass uns lieber über dich reden, Carina. Du wirst im Moment wegen Kindesentführung gesucht. Deine Fingerabdrücke befi nden sich auf der Klingel der Maklervilla, dein
Auto parkt direkt vor der Tür. Und solange ich nicht das Gegenteil beweisen kann, bist du mit einem Polizistenmörder auf der Flucht«, zählte Robert auf. »Wir müssen überlegen, wie du dich stellen kannst, ohne …« »Sch …«, sagte sie, und er wusste nicht, ob sie ihn damit beruhigen oder zum Schweigen bringen wollte. »Dreh dich mal um.«
Er biss die Zähne zusammen und rollte sich auf den Rücken. Die Bewegungen fi elen ihm schon etwas leichter. Das Schmerzmittel zeigte erste Wirkung.
»… ohne dass sie dir am Ende auch noch etwas anhängen, so wie mir.«
»Nicht jetzt«, fl üsterte Carina und strich ihm eine blutverklebte Haarsträhne aus der Stirn. Robert atmete tief aus und genoss die zarte Massage ihrer geschulten Hände. Ihre Finger wanderten mit sanftem Druck in konzentrischen Kreisen vom Hals über die Schulter herab. Sie strichen über seine nackte Brust, verweilten lange über seinem rasch schlagenden Herzen und glitten dann weiter nach unten. »Uns bleibt kaum noch Zeit«, fl üsterte er. »Lass sie uns sinnvoll nutzen.«
»Das werden wir«, unterbrach sie ihn und löschte das Licht.
Das ist doch Wahnsinn, dachte er und fragte sich, was ihn
gerade mehr betäubte. Die Medikamente in seiner Blutbahn oder ihr Atem auf seiner Haut. Seine Schmerzen meldeten
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