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Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Schwarzpulvers gezündet hatte. Doch ihr schallgedämpfter Klang täuschte. Sie durchschlugen mit tödlicher Wucht die Windschutzscheibe und ließen das Sicherheitsglas wie Konfetti nach innen bröckeln.
Stern konnte nicht sagen, welcher davon den Kommissar zuerst getroffen hatte, dessen Kopf auf das Lenkrad sackte. Die Ampel stand weiterhin auf Grün. Etwas später, als sie auf Gelb wechselte, ging die Innenbeleuchtung an, was Robert in seinem ersten Schock aber nicht registrierte. Im Augenblick war sein Gehirn viel zu sehr damit beschäftigt, die entsetzlichen Bilder zu verarbeiten: der Fahrer auf deSterns Kiefer klackten unregelmäßig gegeneinander. Er fror.
Vor Schock, Schmerzen, Panik, und weil ihm auf einmal ein Regenschauer direkt ins Gesicht klatschte. Erst dadurch wurde ihm bewusst, warum das Licht über ihm auf einmal brannte: Seine Tür stand offen. Jemand hatte sie aufgerissen.
»Sie haben sich nicht an die Absprache gehalten«, zischte ein Mann aus der Dunkelheit. Dann wurde es kalt an seiner Schläfe. Der Motorradfahrer hatte die Mündung direkt aufgesetzt.
»Schönen Gruß von der ›Stimme‹. Sie wollten doch wissen, ob es eine Wiedergeburt gibt.«
Stern drückte die geschlossenen Augen noch fester zusammen. Sein Kopf vibrierte vor Anspannung. Und in diesem Augenblick wusste er, dass alle Beschreibungen der letzten Sekunden auf ihn nicht zutrafen. Es gab keinen Film, der sich im Angesicht des Todes abspulte. Noch nicht einmal ein Standbild. Stattdessen konnte Stern für den winzigen Bruchteil einer Sekunde alle Zellen seines Körpers einzeln spüren. Er bemerkte das dumpfe Klopfen, mit dem jede Sekunde mehr Adrenalin aus dem Nebennierenmark in den Strudel seiner Blutbahn pulsierte. Er hörte, wie sich seine Bronchien weiteten, und spürte die gesteigerten Kontraktionen seines Herzens wie kleine Explosionen unter dem Brustkorb. Zeitgleich veränderte sich auch seine äußere Wahrnehmung. Er fühlte den Wind nicht als Einheit, sondern wie ein Sandstrahlgebläse aus unzähligen Sauerstoffatomen, die gemeinsam mit den Regentropfen einzeln auf seiner Haut einschlugen.
Stern hörte sich schreien. Er hatte Angst, so sehr wie noch nie zuvor in seinem Leben. Gleichzeitig erlebte er aber auch jede andere Emotion stärker als jemals zuvor. So als ob man ihm ein letztes Mal beweisen wollte, zu welchen Empfi n dungen er eigentlich fähig gewesen wäre, wenn er dem Leben nur eine Chance gelassen hätte. Dann, kurz vor dem Ende, glaubte er zu zerfl ießen. Er merkte, wie der aus Atomen und Molekülen zusammengesetzte Robert Stern sich in seine einzelnen Bestandteile aufl ösen wollte, um dem Projektil das Eindringen in seinen Körper zu erleichtern. Und während sich eine tiefe Traurigkeit wie ein Mantel um ihn warf, erlöste ihn der tödliche Schuss. Die Kugel schlug ein. Treffsicher, wie vorgesehen. Mitten in die Schläfe. Dort riss sie ein fi ngernagelgroßes Loch in den Schädel, aus dem das Blut wie aus einer schlecht verschlossenen Ketchupfl asche an den Rändern austrat. Stern öffnete die Augen, fasste sich an den Kopf und betastete ungläubig die Stelle, wo der Killer eben noch seine Waffe aufgesetzt hatte. Und die jetzt noch vom Druck des harten Laufes schmerzte. Dann sah er auf seine Finger, rechnete fest damit, Blut an ihren Spitzen zu sehen, zu riechen und zu spüren. Doch nichts davon trat ein.
Endlich sah er nach vorne. Und hörte die Waffe Englers in den Fußraum plumpsen. Das halbe Gesicht des Kommissars schien in Blut getränkt. Erst sehr viel später registrierte Stern, dass dies vom Licht der wieder auf Rot stehenden Ampel herrührte, das ihn seitlich streifte. Er hat mir das Leben gerettet!, dachte Robert. Er hat es geschafft, zu seiner Pistole zu greifen und sich mit letzter Kraft
nach hinten zu wenden, um den Killer …
Für einen Moment hoffte Stern, dass der Kommissar doch nicht so schwer verletzt wäre. Engler saß immer noch nach hinten verdreht wie ein Vater, der kontrollieren will, ob auch alle angeschnallt sind, bevor es losgeht, und sah ihn zum ersten Mal in seinem Leben freundlich an. Dann löste sich ein
Blutstropfen aus seinem Mund. Engler öffnete ihn erstaunt, blinzelte ein letztes Mal und kippte schlagartig mit der Schläfe auf das Lenkrad zurück. Seine Hand, die eben noch die Pistole gehalten hatte, erschlaffte zusammen mit dem Rest seines Körpers.
Von der anschwellenden Hupe aus seinem Trancezustand gerissen, bekam Robert seinen Körper wieder in den Griff. Das

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