Das Kind
bereits an der Heerstraße geparkt und war die letzten Meter zum See zu Fuß marschiert. Nun klatschten Fächer aus regennassen Tannenzweigen in sein Gesicht, und scharfkantige Äste rissen ihm die Haut blutig. Er kam nur langsam voran, weil er vorsichtig sein musste, nicht in einer Pfütze auszurutschen, über eine Wurzel zu stolpern oder aus sonst einem Grund seinen schlimmen Fuß zu belasten. Im Augenblick waren die Schmerzen erträglich, was er auf den erhöhten Adrenalinausstoß zurückführte. Medikamente hatte er keine mehr genommen.
Stern wollte nicht, dass seine Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt war, wenn er gleich Zeuge eines Kinderhandels wurde. Oder eines Mordes.
Bis dahin hatte er erst einmal mit einer anderen Gefahr zu kämpfen: dem Wind. Alle drei Schritte knickte der Sturm einen morschen Ast und fegte ihn herab. Zuweilen hörte es sich an, als würden ganze Baumkronen abgerissen, und Stern war froh, als ihn der schwache Strahl seiner kleinen Taschenlampe endlich wieder auf einen befestigten Weg führte. Er musste nur noch wenige Meter zur Havelchaussee zurücklegen, dann war er am Wasser. Und die »Brücke« lag direkt vor ihm. Sie schwankte so sehr, dass man schon vom Hinsehen seekrank werden konnte. Unregelmäßige Böen zerrten an dem Zweimaster, spannten das ächzende Tauwerk und versuchten das Restaurantschiff vom Landungssteg wegzudrücken.
»Der frischeste Fisch der Stadt«, stand unter dem beleuchteten Wegweiser an der Zufahrt.
Seit gestern wusste Stern um die Doppeldeutigkeit dieser Werbung. Für Unwissende galt die »Brücke« als beliebtes Ausfl ugslokal, das vor allem in den wärmeren Monaten gut besucht wurde. Nur montags, am offi ziellen Ruhetag, trafen
sich hier »geschlossene Gruppen«.
Fotos, Videos, Adressen, Telefonnummern, Kinder …
Robert wollte gar nicht daran denken, welche Tauschbörse des Grauens hier Woche für Woche abgehalten wurde. Er wischte sich den Regen aus dem Gesicht und sah auf die Uhr. Noch fünf Minuten.
Dann versteckte er sich hinter einem unbeladenen Bootsanhänger am Straßenrand und wartete auf den Mann, von dem er bislang kaum mehr als seine verzerrte Stimme kannte. Noch schien er nicht eingetroffen zu sein. Bis auf zwei kleine Positionslichter war das Schiff vollkommen unbeleuchtet, und auch der Besucherparkplatz war menschenleer. Um diese Uhrzeit war die Havelchaussee zur Schonung der Tierund Pfl anzenwelt für den herkömmlichen Verkehr noch gesperrt. Deshalb konnte Stern trotz der starken Windgeräusche schon von weitem das tiefe Blubbern des Achtzylindermotors hören, das langsam, aber stetig aus Richtung Zehlendorf näher kam.
Der dunkle Geländewagen hatte nur sein Standlicht angeschaltet und fuhr mit leicht überhöhter Geschwindigkeit. Stern hoffte fast, der Fahrer hätte eine verfrühte Abkürzung am Wasser entlang genommen und würde gleich weiterfahren. Doch dann erloschen die Frontscheinwerfer komplett, und das bullige Vehikel bog mit knirschenden Breitreifen in die Zufahrt zur »Brücke«. Der Wagen blieb etwa fünfzig Meter vor dem Steg in der Einfahrt stehen. Ein Mann stieg aus. Stern konnte in der Dunkelheit nur scherenschnitt artige Umrisse ausmachen. Doch was er sah, kam ihm bekannt vor. Die hochgewachsene, gerade Gestalt, die breiten Schultern und der stempelartige, kräftige Gang. Er kannte das alles. Hatte es schon gesehen. Sogar oft.
Aber bei wem?
Der Mann klappte den Kragen seines dunklen Trenchcoats hoch, zog sich eine Baseballmütze tiefer in die Stirn und öffnete die Heckklappe. Dann hob er einen kleinen Korb aus dem Kofferraum, über dem eine helle Decke lag. Der Wind drehte für einen kurzen Moment in seine Richtung, und Stern war sich nicht sicher, ob seine angespannten Sinne ihm einen Streich spielten. Ihm war so, als hätte er gerade das Geschrei eines Babys gehört.
Robert wartete, bis der Mann ein Eisentor aufschloss, das den Zugang zur Gangway versperrte. Dann griff er in seine Hosentasche. Er hatte oft von der beruhigenden Wirkung gelesen, die sich einstellen würde, wenn man eine Waffe in den Händen hielt. Er selbst konnte das nicht bestätigen. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er wusste, wem die Pistole gehörte. Einem Mann, der für ihn ein Leben geopfert hatte, in dem sie sich nur als Feinde begegnet waren. Doch sein Plan sah ohnehin nicht vor, sich einen Schusswechsel mit einem erfahrenen Killer zu liefern. Sollte Simon aus irgendeinem Grund wirklich die Zukunft vorhergesehen haben, würde in wenigen
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