Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
meine Mutter. »Dann müssen wir … Also, es gibt da noch einiges vorzubereiten. Wann denn?«
Ich hatte meine Termine halbwegs im Kopf. Marie-Luise würde vormittags die Weinert-Erbin vor Gericht vertreten und es auf die sanfte Tour versuchen, sofern sie ihren Kater im Griff hatte. Kevin erschien nicht vor zwölf. Zu Fuß, vermutlich. Die erste Vorverhandlung der libanesischen Unabhängigkeitskämpferin war am Freitag. Alle anderen Fälle waren auf den Weg gebracht und absolvierten gerade zuverlässig ihren Gang durch die juristischen Instanzen.
»Neun Uhr«, schlug ich vor.
»Das ist zu früh«, protestierte meine Mutter.
»Tut mir leid. Ich muss um zwölf im Büro sein. Morgen oder nie.«
»Dann müssen wir früh raus«, stellte Mutter fest und nahm ihre Brille ab. »Wo ist denn …«
Sie suchte den hoffnungslos überfüllten Couchtisch ab. »Mein Brillenetui. Das lag hier doch die ganze Zeit.«
Wir suchten gemeinsam, und ich fand es unter der Couch. Mutter strahlte.
»Also dann, ab ins Bett. Morgen früh ist die Nacht rum.«
Ich ging in die Küche, während die beiden Damen generalstabsmäßig Bade- und Schlafzimmer okkupierten.
»Ich bin fertig!«, rief Mutter. »Gute Nacht!«
»Gute Nacht!«, rief ich zurück.
Im Kühlschrank fand ich eine offene Dose Margarine. Ich hob die ranzige Schicht ab und roch an dem Rest. Dann warf ich ihn in den Müll. Morgen stand ein Großeinkauf an.
Mit einem Knäckebrot, auf das ich einen Rest Erdbeermarmelade geschmiert hatte, ging ich in mein Zimmer. Ich ließ das Licht aus. Die Straßenlaterne zeichnete ein helles Muster auf den Teppich. Ich kannte dieses Muster. Es war, als wäre ich nie weg gewesen. Und gleich würden nebenan die Stimmen lauter werden. Wie immer, wenn sie dachten, dass ich schlief.
Die Badezimmertür klappte noch einmal. Wenig später hörte ich die Wasserspülung. Ich aß das Knäckebrot und dachte an Natalja und das Kind.
Dieses Kind liebte seine Mutter, so wie alle Kinder ihre Mütter lieben. Doch die Mutter kümmerte sich kaum um das Kind. Es bekam ein Kindermädchen. Ein ganz junges Ding, das kaum Deutsch sprach und aus einem Dorf in der Ukraine hierherverschleppt worden war. Zwei Kinder im Krieg. Verängstigt und alleine. Dann wird der Junge nach Pommern verschickt. Er lebt dort in relativer Sicherheit. Das Mädchen bleibt in Berlin. Durften
sie sich schreiben? Konnten sie telefonieren? Was treibt den Jungen dazu, sich alleine auf den Weg zurück in die Stadt zu machen?
Egal, aus welchen Gründen, er kommt nach Berlin. Und wird Zeuge von etwas, das nicht hätte geschehen dürfen. Nur ein Diebstahl? Oder mehr? Der Junge sagt im Prozess gegen das Mädchen aus. Gegen den Menschen, der ihm am nächsten war, zu dem er einen langen Leidensweg auf sich genommen hat. Was hat er empfunden? Was hat er gesehen?
Natalja wird von einem Standgericht verurteilt, an einem Novembertag im Jahr 1944. Gerichte wurden genauso zerbombt wie Gefängnisse. Häuser ebenso wie Gärten. Schloss oder Hütte, es machte keinen Unterschied. In Plötzensee wurde während eines Bombenangriffes die Guillotine zerstört, Hinrichtungen mussten verschoben werden. Zootiere liefen aus ihren geborstenen Käfigen bis zum Kurfürstendamm. Verwundete Löwen, schreiende Zebras. Berlin war eine brennende Stadt. Gut möglich, dass Natalja die Flucht gelungen war.
Vielleicht glaubt sie, alles sei verjährt. Die Urteile der NS-Justiz haben keine Gültigkeit mehr. Sechzig Jahre später wendet sie sich an Utz von Zernikow, um eine Bestätigung über die Zeit ihrer Zwangsarbeit zu erhalten. Sechzig Jahre hat sie damit gewartet. Sie ist eine sehr alte Frau. Doch sie muss auch damit gerechnet haben, dass man sich nicht nur an das Kindermädchen erinnert, sondern auch an die Verbrecherin. Doch was hat sie sich eigentlich zuschulden kommen lassen?
Ich starrte auf den Lichtfleck, bis mir die Augen brannten. Dann schlief ich ein.
Kaffeeduft weckte mich. Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach sieben. Die Wohnungstür wurde geöffnet und geschlossen, jemand schlich auf dem Flur herum. Eine Stunde später stand ich auf.
Mutter und Hüthchen hatten den Frühstückstisch gedeckt. Es gab Brötchen und Schinkenwurst, die erstaunlich frisch aussah.
»Wir waren schon einkaufen«, erklärte meine Mutter und summte fröhlich vor sich hin, als sie den Kaffee eingoss. Sie hatte sich ordentlich frisiert und ein hellblaues Kostüm angezogen, das etwas aus der Mode war, ihr aber ausgezeichnet
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