Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Seiten des Telefonbuchs legte und sich aus dem Sessel wuchtete. Um und auf dem Couchtisch lagen alte Fernsehzeitschriften, Wollknäuel, heruntergefallene Karten, der Quelle-Katalog und eine angebrochene Schachtel Pralinen.
»Herr Vernau!«, rief sie aus. »Ich mach Kaffee.« Sie watschelte an mir vorbei in die Küche.
Meine Mutter sah ihr lächelnd hinterher. »Eine Seele«, sagte sie.
Ich war anderer Meinung, erwiderte aber nichts und suchte mir einen von Frau Huth nicht kontaminierten Sessel aus. Beim Hinsetzen stach mich eine Stricknadel.
Mutter ließ sich mir gegenüber auf der Couch nieder. Sie hatte rote Augen und trug einen ihrer geblümten Kittel, auf dem sich noch das Frühstücksei von vorgestern befand.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hatte dich angerufen. Aber du hast dich ja nicht gemeldet.«
Ich dachte an die gelben Zettel und hatte ein schlechtes Gewissen.
»Martha ist tot.«
Ich wusste nicht, ob es sich nun um die Katze des Nachbarn, die Frau des feschen Offiziers im Ruhestand aus dem dritten Stock oder um etwas Ernstes handelte.
»Martha. Meine Bridge-Freundin.«
»Ach, Martha. Das tut mir leid.«
Bridge bedeutete Mutter alles. Sie zog ein zusammengeknäueltes Taschentuch hervor und tupfte sich die Augen ab. Soweit ich wusste, war Martha die, die immer gemogelt hatte. Aber daran wollte ich sie jetzt nicht erinnern.
»Sie sagte noch: Was hast du in den Kaffee getan? Dann war sie weg. Genau da, wo du jetzt sitzt.«
Frau Huth rempelte mit dem Ellbogen die Tür auf und trug das Tablett zum Tisch.
»Gehirnblutung«, ergänzte sie nicht gerade zartfühlend. »Genau da, wo Sie jetzt sitzen. Milch und Zucker?«
Sie goss Kaffee in eine Tasse, in der sich die Sedimente von schwarzem Tee wie Jahresringe übereinanderlegten.
»Milch. Danke.«
Frau Huth hob die Büchsenmilch an die Nase, roch daran und schenkte ein. Ich kostete. Beide Frauen fixierten mich scharf. Obwohl der Kaffee definitiv nach Beimischungen schmeckte, holte ich von irgendwoher ein zufriedenes Lächeln. »Gut. Sehr gut.«
Erleichtert ließ sich Frau Huth in den Sessel sinken. »Am Kaffee kann es nicht gelegen haben. Grete macht sich Vorwürfe. Es hätte halt nicht so passieren dürfen. Trinkt ihren Kaffee, sitzt hier im Sessel …«
»Ich würde gerne mal die anderen besuchen«, sagte meine Mutter. »Reinickendorf ist einfach zu weit weg, jetzt, wo das mit meiner Hüfte sich so verschlimmert hat.«
»Seit wann hast du Hüftprobleme?«
»Seit einiger Zeit. Seit du zum letzten Mal hier gewesen bist.« Mutter zog einen Teebecher heran, der seit Tagen halb voll hier stehen musste, und nippte mit entsagungsvoller Miene daran.
»Du meinst, ich soll dich fahren.«
»Nur wenn du Zeit hast natürlich. Er ist doch Anwalt …«, wandte sie sich erklärend an Frau Huth, die, soweit ich wusste, über meinen beruflichen Werdegang von der Einschulung an bis ins Detail bestens informiert war.
Reinickendorf.
Besuche bei alten Damen, die sich stundenlang beim Kartenspielen immer die gleichen Geschichten erzählten, zwischendurch in meine Richtung nickten und »Jaja, der kleine Joachim« kicherten. Während ich mit einer Tasse Kaffee, die schmeckte wie eine Mischung aus Zichorie und Laxoberal, das dritte Stück Frankfurter Kranz vertilgte.
In diesem Moment klingelte mein Handy. »Vernau?«
Es war Connie. »Ich sollte dich dran erinnern, wenn eine halbe Stunde vergangen ist«, sagte sie. »Zeit zum Aufstehen, Duschen und Ins-Büro-Kommen!«
»Ach du lieber Himmel«, antwortete ich und tat leicht nervös. »Danke. Ich bin schon unterwegs.«
»Überstürze bloß nichts. Ist sie hübsch?«
Ich sah zu meiner Mutter und stellte mir diese Frage zum ersten Mal in meinem Leben. Wie würde sie heute wohl aussehen, wenn sie sich ein bisschen mehr um sich kümmerte. Sie war so unscheinbar geworden. Grau. Nicht nur die Haare. »Unter Berücksichtigung sämtlicher Begleitumstände – ja.«
»Okay. Ich ruf in zehn Minuten noch mal durch.«
Ich stand auf. Beide Damen starrten mich an.
»Willst du schon gehen? Es ist doch Sonnabend, hast du denn nicht frei?«
Ich hatte Connie um den Telefonservice gebeten, weil ich in Eile war. Ich wollte nur kurz vorbeischauen und nach dem Rechten sehen. Der Stapel unerledigter Akten wurde auch dadurch nicht kleiner, dass ich ihn ständig von der einen auf die andere Schreibtischseite schob.
»Wir haben doch noch Kuchen!«, rief meine Mutter. »Hüthchen hat doch
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