Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Blick fiel auf die Zeitungen. »Ich habe es schon gelesen. Das freut mich für Frau von Zernikow.«
»Nur Zernikow«, sagte ich freundlich. »Ohne von.«
Sigrun hatte den adeligen Wurmfortsatz quasi mit einer Operation im Dienste der Demokratie entfernen lassen. Sie hatte es getan, als sie die Politik entdeckte und lange bevor wir uns kennen
gelernt hatten. Mittlerweile glaubte ich, dass sie es heimlich bereute.
»Ja, natürlich. Richten Sie ihr bitte aus, dass ich sie wählen werde. Mit beiden Stimmen. Sie ist eine der wenigen glaubwürdigen Politiker. Meine Frau meint das übrigens auch.«
Es war mir neu, dass Georg verheiratet war. Er wirkte so jung. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass ich mittlerweile über vierzig war und Georg Ende zwanzig. Sie wurden nicht jünger, all die Menschen am Anfang ihres Lebens, ich wurde einfach nur älter. »Das freut mich«, sagte ich. »Ich werde es ausrichten.«
In meinem Büro schlug ich die Zeitungen auf. Sigruns Taktik war aufgegangen. Die gut unterrichteten Kreise wussten, dass der Regierende Bürgermeister beabsichtigte, nach gewonnener Wahl Sigrun die Senatsverwaltung für Inneres anzubieten. Für ihre Parteifreunde war Sigrun die beste Frau für dieses Amt.
Es war ein gelungener Coup. Aber er würde ihr nichts nutzen. Sie war die beste Frau, aber das war nichts gegen eine ganze Reihe nicht ganz so guter Männer.
Ich blätterte die Berliner Tageszeitung durch. Brettschneider war kein politischer Journalist. Ihm fehlten die Verbindungen. Doch auch er hatte von dem jüngsten Gerücht gehört und flocht es geschickt in seinen Text ein. Dressler hatte unter dem wohltuenden Einfluss des Côte Chalonnaise brillante Fotos geschossen. Scarlett und Rhett waren das Paar. Wir konnten zufrieden sein.
Ich wollte die Zeitung gerade zuschlagen, als mein Blick auf ein Foto fiel. Eine alte Frau starrte in die Linse eines grottenschlechten Passbildautomaten.
Russin im Landwehrkanal ertrunken.
Olga W. war am gestrigen Morgen tot von einem Spaziergänger gefunden worden. Wem in der Nacht etwas aufgefallen sei, der wurde gebeten, sich an die nächste Polizeidienststelle zu wenden.
Ich überflog die anderen Zeitungen. Ohne Foto, zwei, manchmal
drei Zeilen. Nur im Tagesspiegel stand, dass Olga W. auf Einladung der Maria-Hilf-Gemeinde in Spandau nach Berlin gekommen war. Sie war keine Russin, sondern Ukrainerin. Sie war eine ehemalige Zwangsarbeiterin.
Ich trat auf den Flur. Georg arbeitete noch immer in Harrys Zimmer. Ich schloss die Tür. Dann rief ich die Telekom an und ließ mich mit der Maria-Hilf-Kirchengemeinde verbinden. Es klingelte mehrere Male. Gerade als ich annahm, dass niemand zu erreichen sei, meldete sich ein Mann mit einer ruhigen, angenehmen Stimme.
»Ich rufe an wegen Olga W.«
Der Mann verstand sofort. »Es ist so furchtbar. Vorgestern sitzen wir noch alle zusammen, und jetzt dieser Unfall. Sie hat bei einem Gemeindemitglied gewohnt. Die Frau steht immer noch unter Schock.«
»Sie haben Olga nach Berlin eingeladen?«
»Ja. Wir wollten gemeinsam an einer Gedenkfeier in Siemensstadt teilnehmen. Außer ihr haben noch fünf weitere ehemalige Zwangsarbeiter diese Strapaze auf sich genommen. Es ist nicht leicht für sie. Die Erinnerungen sind für die meisten doch recht schmerzlich.«
Ich dachte an Utz. »Kannte sie jemanden in Berlin? Hatte sie Verwandte oder Freunde hier?«
»Wer sind Sie? Sind Sie von der Presse?«
»Nein. Ich …« Mein Blick fiel durch das Fenster hinaus auf den Rasen und den blühenden Rhododendron. »Ich bin ihr in einem Garten begegnet.«
»Olga liebte Blumen«, sagte der Mann. Dann schwieg er.
Ich sollte das Gespräch beenden und diesen freundlichen Menschen nicht noch länger behelligen. Olga und ich hatten uns durch Zufall kennen gelernt, es war eine mehr als flüchtige Begegnung. Ich hätte sie bereits vergessen, wäre ich nicht auf dieses Foto gestoßen.
»Ich bin Pfarrer«, sagte der Mann schließlich. »Dieser Tod berührt mich sehr. So fern der Heimat, in einem Land, das ihr so viel Leid angetan hat. Sie kam in gutem Glauben und mit dem Willen zur Versöhnung. Nein, ich glaube, sie kannte niemanden mehr hier. Das heißt …« Er stockte. »Das ist tatsächlich etwas rätselhaft. Sie hatte wohl doch eine Verabredung.«
Hoffentlich nicht mit Utz von Zernikow. Hoffentlich nicht die Neuauflage eines sechzig Jahre lang vergessenen Techtelmechtels.
»Jemand hat ihr einen Wagen geschickt.«
»Ein Taxi?«
»Nein, einen
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