Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
hole es. Eine Minute.«
Ich rannte die Treppen hinunter, aus dem Haus, den Kiesweg
entlang, sprang über die Bodendecker und Rabatten, verfluchte die Stufen vor dem Wirtschaftseingang und lief in unsere Wohnung. Das Mädchen war noch nicht da gewesen. Ich fand das Hemd im Schlafzimmer, nahm den Zettel und rannte zurück.
In der Kanzlei stieß ich mit Georg zusammen, der am Kopierer stand. Das Papier riss ein.
»Oh, das tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Kann ich das kleben?«
»Nein danke.«
»Dann sollte ich es vielleicht kopieren?«
Das Papier wirkte unendlich dünn. Ein zarter Hauch, wie man ihn nur gelegentlich in den Fingern hielt, wenn man eine neue Uhr auswickelte. Ich reichte es ihm. Wenn Utz die Russin so wichtig war, dann sollte man auf dieses Papier besser aufpassen.
Georg gab mir das Original und die noch warme Kopie zurück. Dann warf ich einen Blick in den Konferenzraum und sah, dass Utz bereits gegangen war.
Ich fand ihn in seinem Büro, einem dunkel getäfelten Raum mit einer verglasten, deckenhohen Bibliothek. Direkt hinter dem Schreibtisch hing ein Bild der Berliner Sezession. Ich interessierte mich nicht für Kunst, eine Einstellung, die bei ihm einen kurzen, aber heftigen Anflug von Bedauern hinterlassen hatte.
»Hier.« Ich reichte ihm das Original. Die Kopie legte ich vor mich auf den Schreibtisch.
Utz griff vorsichtig nach dem Schreiben, um es nicht endgültig zu zerreißen, und begutachtete es gründlich. »Was ist das?«
»Ich weiß es nicht. Wir müssen es übersetzen lassen. Vielleicht eine Forderung.«
»Eine Forderung?«
»Die Russin wollte, dass du es unterschreibst.«
Utz vertiefte sich wieder in die fremden Buchstaben. Aber er wurde offenbar genauso wenig schlau aus ihnen wie ich. Dann tat er etwas Seltsames. Er hielt das Schreiben gegen das Fenster.
Anschließend ließ er sich von mir das schwere, in einem Marmorklotz versenkte Feuerzeug von dem Rauchertisch geben und hielt die Flamme so nahe an das Papier, dass es zwar erhitzt wurde, aber nicht verbrannte. Er hob es wieder gegen das Licht. Mit einem resignierenden Kopfschütteln ließ er es sinken.
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Kinderkram«, brummte er. »Ganz alter Kinderkram.« Er faltete das Papier sorgfältig zusammen. »Erinnere dich bitte genau daran, was sie gesagt hat. Sie wollte zu mir. Wie war ihr Name?«
»Den hat sie nicht genannt.«
»Sie muss doch irgendetwas gesagt haben. Sie kann doch nicht erwarten, dass ich ein Dokument in einer fremden Sprache einfach so unterschreibe.«
Ich setzte mich auf. »Sie sagte, es sei eine Sache zwischen dir und … einer Frau.«
Ich beobachtete ihn scharf. Soweit ich wusste, hatte es in seinem Leben an Versuchungen nicht gemangelt. Er hatte keiner nachgegeben. Er war jemand, hatte mir Sigrun erzählt, der wohl nur einmal lieben konnte. Deshalb hatte er nicht wieder geheiratet, deshalb hatte er auch nur ein Kind.
»Natalja«, sagte ich. »Natalja, so war der Name.«
Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte etwas in seinen Augen auf. Dann senkte er den Blick auf das Papier und schüttelte den Kopf. »Es wird ein Bettelbrief sein. Vergessen wir das alles.«
Er zerriss das zarte Papier und warf die Fetzen achtlos in den Papierkorb. Dann entließ er mich mit einem knappen Nicken und vertiefte sich in eine Handakte.
Ich stand auf und griff nach der Kopie. Ich hielt sie ihm entgegen, doch er schaute nicht mehr hoch.
In meinem Büro erledigte ich einige dringende Telefonate mit Mandanten und einer neuen Staatsanwältin, dann nahm ich mir
Aarons Haus vor und stellte fest, dass ein Plan fehlte. Ich musste das Grundbuchamt kontaktieren. Das Telefon klingelte.
»Eine ziemlich penetrante Person«, erklärte Connie am anderen Ende der Leitung. »Sie sagt, du seist ihr Gegner in einem Strafprozess. Hast du was angestellt?« Sie kicherte.
»Wer ist es denn?«
»Sie heißt Marie-Luise Hoffmann und vertritt angeblich jemanden, der gegen einen unserer Mandanten klagt.«
»Stell sie durch«, sagte ich.
Es klickte. »Hallo? Ist da jetzt endlich jemand?«
»Joachim Vernau«, sagte ich.
Am anderen Ende der Leitung atmete jemand überrascht aus. Dann war es still.
»Hallo?«, fragte ich, »du wolltest mich sprechen?«
Marie-Luise fasste sich. »Dein zickiger Kollege, mit dem ich bereits das Vergnügen hatte, erklärte mir, dass du seit neuestem für so was zuständig bist. Meine Mandantin wurde von euch übers Ohr gehauen. Es geht um den Nachlass des
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