Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
wenn du endlich mal zuhören würdest, dann wüsstest du das. Aber bei dir geht’s ja gleich um Sippenhaft.«
»Schluss!« Utz stand auf. »Ich kann das nicht mehr hören. Geht bitte. Ich will schlafen.«
Sigrun strich sich die Haare zurück. »Du hast Recht. Es ist nicht der passende Zeitpunkt.«
Ich sah auf die Uhr. Nach elf. Marie-Luise würde mich umbringen. »Es tut mir leid«, murmelte ich.
Ich konnte noch nicht gehen. Irgendetwas wollte ich noch fragen. Alles war klar, aber kein Staatsanwalt der Welt würde Anklage erheben. Wir würden noch nicht einmal einen Hausdurchsuchungsbefehl bekommen. Wir hatten nur Indizien. Die Beweise fehlten. Ich starrte auf den Kachelofen, eine wunderschöne Jugendstilarbeit aus Velten. Auf Pferdewagen nach Berlin gebracht, als der Bauboom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts dem kleinen Ort hinter der nördlichen Stadtgrenze eine kurze Blütezeit bescherte. Die Ofenklappen waren aus poliertem Messing, und auf der Spitze des Ofens saß ein kleiner Engel, der jubilierend in eine Tröte blies.
»Ich muss noch einmal in den Keller.«
Sigrun, die gerade ihre Aktentasche hochgehoben hatte, erstarrte. »Was? Jetzt?«
»Wir müssen wissen, was da drin ist. Sonst ist alles umsonst. Wenn es Aaron gelingt, den Keller leer zu räumen, werden wir ihm nichts mehr nachweisen können. Ich fahre noch mal raus nach Grünau.«
Sigrun ließ die Tasche sinken und sah zu ihrem Vater hinüber. »Glaubst du eigentlich, was er sagt?«
Das war ein Schlag in die Magengrube. Ich hatte erwartet, dass sie meine Beweisführung überzeugen würde. Aber hier stand mir wieder eine Zernikow gegenüber, die den Kopf in den Sand steckte. Utz wartete an der Tür und sah so aus, als ob ihn an diesem Abend nur noch das Bett interessieren würde. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich.
Ich wandte mich ab. Dieser Familie war nicht mehr zu helfen. Sie hatten sich alles angehört und würden einfach zur Tagesordnung übergehen.
»Ich weiß es wirklich nicht«, wiederholte Utz entschuldigend. Sigrun nahm ihre Aktentasche und ging triumphierend hinaus.
»Warte«, sagte er zu ihr. Sigrun blieb stehen.
»Vielleicht hat er Recht, vielleicht auch nicht.«
»Na wunderbar!«, rief ich. »Werft doch eine Münze.«
»Aber wenn auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit besteht, dass er Recht hat, dann dürfen wir nichts unversucht lassen, um den Mördern das Handwerk zu legen.«
»Und das heißt?«, fragte Sigrun.
Utz wandte sich an mich. »Ich komme mit.«
40
Sigrun fand unseren Plan gar nicht lustig. Sie erinnerte an die nächtliche Uhrzeit, an Utz’ Herz-Kreislauf-Schwäche, an Hausfriedensbruch, Skandal und schließlich an die Wahlen. All das hielt ihren Vater nicht davon ab, den Hausmantel gegen eine leichte Wetterjacke zu tauschen und sich feste Schuhe anzuziehen.
»Wir kommen nur über den Langen See an das Haus heran«, sagte ich. »Zieh dir was Wasserdichtes an.«
»Ihr seid komplett wahnsinnig.« Sigrun ließ sich in den Sessel fallen. »Was erwartet ihr da unten eigentlich? Albrecht Dürers Handschriften? Den letzten Van Gogh? Einen Altar von Tilman Riemenschneider?«
»Sigrun«, keuchte Utz, der sich gerade die Schnürsenkel band, »ich will die Wahrheit wissen.«
»Das fällt dir aber früh ein.«
Utz sah hoch. »Ich habe Fehler begangen. Ich habe dafür gelitten. Wenn ich jetzt nicht gehe, werde ich mir immer Vorwürfe machen.« Er stand mühsam auf. »Du hättest nicht in die Politik gehen sollen.«
Sigrun biss sich auf die Lippen. »Okay«, sagte sie schließlich. »Wartet auf mich. Ich ziehe mir nur was anderes an.«
»Nein.«
Ich stellte mich ihr in den Weg. »Das ist zu gefährlich. Utz ist der Einzige von uns, der wirklich ein Recht darauf hat, in den Keller zu gehen. Bleib hier.«
»Er ist zweiundsiebzig. Hast du das vergessen?« Sie marschierte vorbei.
Ich hörte, wie sie im Treppenhaus die Stufen hinabrannte. Dann wandte ich mich an Utz. »Aaron ist nicht allein. Er hat mindestens zwei Helfershelfer, die wissen, wie man zuschlägt.«
Utz nickte bedächtig. Offensichtlich war mein Gesicht Beweis genug, denn er ging zu der Anrichte und zog eine Schublade auf. Er suchte und brummte einen Fluch, als er nicht gleich fündig wurde. Schließlich sagte er »Ach ja«, schloss die Schublade und drehte sich zu mir um. Eine schwarze Taurus PT 2. Offensichtlich war jeder hier im Haus bewaffnet. Er steckte sich die Waffe in den Hosenbund, als sei es das Normalste der
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