Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Mal seit unserer Nacht im Keller erwähnte Marie-Luise Sigruns Namen. Ich wusste, dass ich die Frage nicht zu stellen brauchte. Ich tat es trotzdem. »Hat sie sich gemeldet?«
»Nein. Die Wahlprognosen sind katastrophal. Sie liegen zwei Prozentpunkte zurück. Kein Wunder, wenn das Haus der Spitzenkandidatin auf den Kopf gestellt und lastwagenweise geraubte Kunst abtransportiert wird. Dazu ein Schwerverbrecher als Hausfaktotum, der den ganzen Dreck erledigt hat. Und dann will sie von allem nichts gewusst haben?«
»Sie hat zu spät gefragt«, sagte ich leise.
»Sie hat die Antwort nicht wissen wollen, so war es.«
Marie-Luise tauschte meine Zeitung gegen ein hochintellektuelles, linksliberales Literaturblatt aus. »Aber sie fällt ja weich. Klugerweise ist sie sofort von allen Ämtern und der Kandidatur zurückgetreten. Zur Belohnung bekommt sie ein Bundestagsmandat.
Da kann sie so lange auf der Hinterbank schlafen, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«
Sie gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Lies nicht so viel von dem Zeug. Das macht nur Kopfschmerzen. Kannst du schon aufstehen?«
»Nur mit Hilfe einer bezaubernden Schwester.«
»Apropos bezaubernd«, sagte Marie-Luise. »Die Freifrau hat Klage eingereicht. Sie will einen Teil der Bilder zurück. Ihr Anwalt sagt, es sieht gar nicht so aussichtslos aus. Flüstert der Flurfunk.«
»Wer vertritt sie?«
Marie-Luise sah aus dem Fenster. »Schmiedgen.« Dann zuckte sie mit den Schultern. »Er sagt, er braucht das Geld, weil die Galerie nicht so gut läuft.«
»Ihr redet wieder miteinander?«
Marie-Luise sah interessiert auf ihre Schuhspitzen.
»Ihr habt doch nicht etwa wieder …«
»Nein. Ich bin ihm im Gericht begegnet. Er hat mich nach dem Weinert-Fall gefragt und mir seine Hilfe angeboten.«
»Und? Hast du sie angenommen?«
Marie-Luise sah mich an und lächelte verschmitzt. »Ich habe ihm gesagt, dass ich nur mit dem besten Anwalt zusammenarbeite, den ich kenne. Und dass das definitiv nicht er ist.«
Sie öffnete ihre Aktentasche und legte mir einige Papiere auf die Bettdecke. »Das sind Angebote für dich. Zwanzigtausend Euro für die Exklusiv-Geschichte bei diversen Illustrierten, mehrere Einladungen zu Talkshows, und ein Privatsender will alles verfilmen und möchte dich als Augenzeugen.«
Ich reichte ihr die Seiten zurück. »Sag alles ab.«
Nachdem sie gegangen war, schaltete ich den Fernseher ein. Der RBB brachte eine Zusammenfassung der letzten Tage und kündigte Neuigkeiten an. Ein Reporter stand vor der Villa der Zernikows und berichtete, dass Walter Herzog nun auch noch
mit der Entführung einer BVG-Fähre und dem Schusswechsel auf dem Langen See in Verbindung gebracht würde.
Dann der Bahnhof Lichtenberg. Milla stand vor einem Zug, Horst half ihr, das Gepäck hineinzutragen.
»Wir werden heiraten«, sagte er glücklich in die Kamera. »Und dann soll sie alles so schnell wie möglich vergessen.«
Milla lächelte und küsste Horst. Dann hielt sie einen Zettel in die Kamera. Die Bescheinigung, dass ihre Mutter als Zwangsarbeiterin bei den Zernikows gearbeitet hatte. Der Reporter vermutete nicht zu Unrecht einen Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen.
»Es wird Tage dauern, bis die Beamten der Spurensicherung die Asche am Döllnsee vollständig durchsucht haben. Die zweite Tatverdächtige, die sechsundzwanzigjährige Cornelia Schumacher, ist noch immer nicht vernehmungsfähig. Sie wurde in das Gefängniskrankenhaus Moabit verlegt. Ihr wird vorgeworfen, den vermutlichen Drahtzieher des Kunstraubs, Aaron von Lehnsfeld, mit mehreren Schüssen getötet zu haben. Die Staatsanwaltschaft geht von Notwehr aus.«
Mich traf fast der Schlag, als jetzt ein Foto von mir eingeblendet wurde. Es war ein Ausschnitt aus einem der Dressler-Gartenparty-Fotos.
»Die beiden Anwälte, die sich zur Tatzeit ebenfalls am Döllnsee aufhielten, haben womöglich als Erste die Spur des größten Kunstraubs der Nachkriegsgeschichte aufgenommen.«
Marie-Luise beim Verlassen des Krankenhauses vor drei Tagen. Dann ein Schwenk über die Villa in Grünau.
»Das Anwesen der Lehnsfelds, in dessen Keller die Kunstgegenstände sechzig Jahre lang gelagert wurden, fällt vermutlich an die Jewish Claims Conference. Der Ruderclub Eintracht Grünau hat bereits angekündigt, dagegen Widerspruch einzulegen.«
Der Reporter gab zurück ins Studio. Im Grunde waren es beruhigende
Nachrichten. Den Anwälten würde die Arbeit nicht so schnell ausgehen.
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