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Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Titel: Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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nächsten Tagen bekam ich viel Besuch. Hauptsächlich von Kriminalbeamten. Ich gestand die Fährenentführung, nachdem man mir mehr oder minder Straffreiheit zugestanden hatte. Ich hoffte, dass meine Aussage dazu beitrug, dass Walter nicht als der allein Schuldige hingestellt wurde.
    Auch Mutter und Hüthchen kamen zwischen drei und vier Mal am Tag vorbei. Sie ließen sich immer neue Details der ganzen Geschichte erzählen. Laut lasen sie mir aus einem ausführlichen Bericht über den »Mann, der die Kunst verbrannte«, vor. Der mittlerweile beste Feind der Familie, Brettschneider, hatte das Interview geführt und unterrichtete die interessierte Öffentlichkeit darüber, dass ich gerne Kim Wilde hörte und schon im zarten Alter von sechs Jahren einen Adventskranz angezündet hatte.
    Es war halb neun Uhr abends, als Utz an meinem letzten Abend im Krankenhaus mit einer edlen Flasche Cognac in meinem Zimmer auftauchte.
    »Kann ich dich kurz sprechen?«
    Ich bot ihm einen Stuhl an. Ich konnte mittlerweile schon sitzen und nahm ihm gegenüber an dem quadratischen Krankenhaustisch Platz.
    »Hast du noch Schmerzen?«
    »Nicht sehr«, sagte ich.
    Utz holte einen Packen Briefe aus der Innentasche seines Jacketts und legte sie neben die Cognacflasche auf den Tisch. »Das haben sie bei der Hausdurchsuchung gefunden.«
    Es waren alte Briefe auf dünnem bräunlichem Papier, mit russischen Briefmarken beklebt. Sie trugen keinen Absender. Auf ihnen stand in ungelenken, altdeutschen Buchstaben: Utz von Zernikow, Guntherstraße, Berlin-Grunewald.
    »Sie sind von Natalja«, sagte Utz. »Ich kann sie nicht lesen. Sie sind auf Russisch.«

    »Ich kann leider auch kein Russisch.« Ich reichte ihm die Briefe.
    Er steckte sie sorgfältig ein. »Ich fliege morgen nach Kiew. Ich habe ihr über die Ukrainische Nationalstiftung eine Nachricht zukommen lassen. Sie will mich sehen.«
    »Und, freust du dich?«
    Utz trat ans Fenster. »Ich weiß es nicht. Es ist so eine lange Zeit vergangen. Was soll ich ihr sagen? In welcher Sprache? Ich fühle mich schuldig für etwas, das ich nie gewollt habe. Wie soll ich ihr das erklären?« Seine Silhouette spiegelte sich in der Fensterscheibe.
    Ohne sich zu mir umzudrehen, sprach er weiter: »Ich denke immer noch an sie. An das Mädchen Paula. Ich hoffe, dass dieses Mädchen Paula dem Jungen Utz eines Tages verzeiht.«
    Ich sah auf die Cognacflasche und dachte daran, dass wir nie wieder zusammen trinken würden.
    »Ich bin zu alt für Freunde. Aber du wärst ein guter Partner geworden«, sagte Utz leise. »Und es trifft mich, dass ich dich als Sohn verloren habe.«
    »Dann sieh zu, dass dir das nicht auch mit deiner Tochter passiert.«
    Utz drehte sich um und lächelte. »Eben spielt sie noch auf deinen Knien, und dann geht sie fort und ist ein fremder Mensch. Es sind nicht die Eltern, die diese Entscheidung fällen. Es sind die Kinder.«
    Wenig später verabschiedete er sich und ging.
     
    Ich habe viel darüber nachgedacht, ob etwas dran war an dem, was Utz zum Schluss gesagt hatte, bevor er eine alte Frau in Kiew besuchte, die ihm mehr bedeutete als seine eigene Mutter. Mein ganzes Leben lang war ich überzeugt gewesen, dass letzten Endes die Eltern die Schuldigen sind und uns dazu verdammen, bis zu ihrem Tod Kinder zu bleiben. Und dass man aufstehen und weggehen muss, um erwachsen zu werden.

    Aber das stimmt nicht. Man ist erst erwachsen, wenn man seine Eltern wirklich lieben kann. Und dann haben sie, trotz allem, einen guten Job gemacht.
    Ob Utz’ Besuch Erfolg hatte, habe ich nie erfahren. Für Ekaterina war es schon ein Erfolg, dass so ein Treffen überhaupt zustande kam.
    Die Plausibilitätsprüfung von Nataljas Fall war sehr schnell abgeschlossen. Aus dem Deutschen Stiftungsfonds erhielt sie eine einmalige Zahlung von zweitausenddreihundertachtzig Euro und fünf Euro mehr Rente im Monat.
    Sigrun traf ich erst viele Wochen später. Sie überquerte die Linden Richtung Reichstag und war in Eile. Wir liefen aneinander vorbei, und noch ehe ich überlegen konnte, ob ich sie wohl ansprechen sollte, war sie schon vorüber. Es dauerte lange, bis ich dahinterkam, dass nicht sie der größte Verlust war, sondern die Illusion, die ich mir über uns beide gemacht hatte.
    Kevin kehrte nach den Semesterferien an die Humboldt-Universität zurück und begann mit erstaunlichem Fleiß sein Hauptstudium. Er entschied sich für Rechtsgeschichte.
    Walter Herzog wurde zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Den Mord

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