Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
eine Winzigkeit locker, als ich spürte, dass sie kurz vor dem Ersticken war. Sie röchelte und zuckte mit den Beinen. Ich drückte sie mit
dem ganzen Körper in die Enge und hatte einen Moment lang ein äußerst ungutes Gefühl. A tergo an der Heizung sozusagen.
»So«, sagte ich. »Jetzt bleiben wir so lange, bis meine Frau nach Hause kommt. Die wird die Polizei rufen, und dann ist Ruhe im Karton. Kapiert?«
Sie erschlaffte. Ich hielt sie nach wie vor fest genug, dass sie nicht entkommen konnte.
»Was heißt das?«, fragte sie. »Ruhe im Karton? Wollt ihr mich auch umbringen?«
»Auch?«, fragte ich. »Ich habe noch niemanden umgebracht. Aber einmal ist immer das erste Mal.«
In diesem Moment klingelte das Telefon. Ich hörte meine Stimme auf dem Anrufbeantworter, dann piepste es, und es rauschte in der Leitung.
»Joachim?«
Mutter.
»Joachim, bist du da? Wir wollten doch eine Spazierfahrt mit dem Auto machen. Meldest du dich?« Sie horchte noch ein bisschen im Äther herum und legte dann auf.
»Meine Mutter«, sagte ich. »Weiß Ihre eigentlich, was Sie hier tun?«
Wir schwitzten beide wie die Schweine. Sie stöhnte und sagte etwas.
»Was?«
»Olga war die einzige Freundin meiner Mutter. Die letzte, die sie noch kannte aus Prowery. Was habt ihr mit ihr gemacht?«
Jetzt wusste ich es. Die Frau. Die Russin. »Nichts. Sie war kurz hier und ist wieder gegangen. Wo ist der Schlüssel?«
Sie antwortete auf Russisch.
»Wo?«
»Hinten links.«
Ich musste sie loslassen, um an ihre Hosentasche zu kommen. Sie wusste das auch. Patt.
»Hören Sie«, sagte ich. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie schließen jetzt wieder auf, und dann setzen wir uns hin, und Sie erzählen mir, warum Sie so böse auf uns sind.«
»Gut, gut«, röchelte sie.
Ich ließ sie los und suchte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel. Als ich ihn gefunden hatte, schubste ich sie sanft fort und öffnete die Handschelle.
Milla Tscherednitschenkowa drehte sich nicht um. Sie blieb vor der Heizung hocken. »Was habt ihr mit Olga gemacht?«, fragte sie erneut.
Ich ging hinüber zum Telefon. Sollte sie jemand anderen mit ihren Geschichten belästigen, ich rief jedenfalls die Polizei.
»Guten Abend«, sagte ich, als jemand am anderen Ende abhob. »Ich möchte einen Einbruch melden.«
»Auflegen«, sagte sie hinter mir.
»Ihren Namen bitte?«
Da sagte sie: »Pascholsta.«
Ich drehte mich um. Und legte auf. Jeder hätte das getan. Jeder, der die kleine schwarze Pistole in ihrer Hand gesehen hätte.
Ich fragte sie, ob ich ins Bad dürfte. Irgendwie musste ich Zeit gewinnen. Als ich mich im Spiegel sah, erkannte ich mich selbst nicht mehr. Auch Milla wirkte etwas derangiert. Über ihrem rechten Jochbein bildete sich eine Schwellung. Vermutlich dort, wo sie die Heizung geküsst hatte. Ich wusch mich vorsichtig. Als ich fertig war, fragte ich, ob sie etwas zu trinken wolle.
»Wasser.« Sie deutete auf den Zahnputzbecher. Ich füllte ihn und reichte ihn ihr vorsichtig hinüber. Währenddessen fuchtelte sie auf unverantwortliche Weise mit der Pistole herum.
»Legen Sie doch das Ding weg«, sagte ich. »Sie machen sich unglücklich.«
Sie trank das Glas in einem Zug leer. »Sechsunddreißig Jahre lang hat mich meine Mutter belogen.«
Ich füllte den Becher erneut. Vielleicht wollte sie ja nur reden. Ich beobachtete sie im Spiegel. Sie trank wieder und ließ dann die Hand sinken. In der anderen hielt sie immer noch die Waffe. Ich kannte das Fabrikat nicht. Eine russische vermutlich, irgendwo am Ostbahnhof gekauft.
»Warum?«, fragte ich.
»Weil sie sich schämte.«
Ich bewegte mich vorsichtig in den Flur, und sie folgte mir. Wir gingen wieder ins Wohnzimmer.
Sie setzte sich mir gegenüber und ließ jetzt endlich die Waffe sinken. Leider nur so weit, dass die Mündung direkt auf meinen Unterleib zielte. So richtig entspannen konnte ich mich nicht.
»Sie schämte sich, weil sie Zwangsarbeiterin bei den Deutschen war. Sie schämte sich, weil sie in den Gulags dafür büßen musste. Sie schämte sich, weil sie sich nicht umgebracht hat, statt bei den Deutschen zu arbeiten, so wie Stalin es befohlen hatte. Sie schämte sich, als sie zurückkehrte und ihre Zähne und ihre Jugend verloren hatte. Sie schämte sich, dass die Nachbarn uns nicht grüßten und ich so lange keinen Studienplatz bekam. Und mit allem zusammen hat sie sich vor ihrer eigenen Tochter geschämt.«
»Dafür sprechen Sie ein hervorragendes Deutsch«, sagte ich. »Aber
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