Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Büro eines Kollegen herumschnüffeln.
Ich durchblätterte die Akten. Die Schauspielertochter, einige Steuerrechtsfälle, Abrechnungen und Notizen. Ich holte meinen Schlüsselbund heraus, um den Schreibtisch aufzuschließen. Er war offen.
Ich hatte erwartet, den Rückübertragungsfall nicht mehr vorzufinden. Doch alles lag säuberlich in Aktendeckeln und Hüllen. Was zum Teufel hatte Harry gesucht?
Es war leise genug im Haus, um von weit entfernt den Gong einer Uhr zu hören. Ich schloss alles ab und ging hinüber zu Utz.
Bei seinem Anblick erschrak ich zutiefst. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber er hatte es tatsächlich geschafft, in einer Nacht um Jahre zu altern. Seine kräftige Gesichtsfarbe war einem kränklichen Grau gewichen. Die Schultern tief nach vorn
gebeugt, bot er mir schweigend den Platz vor dem Schreibtisch an. Seine Hand zitterte leicht.
»Nun«, begann er und räusperte sich. In seiner Stimme lag das heisere Falsett des Alters, »zumindest war es ein Fest, über das man spricht.«
Er wies auf die Morgenzeitungen.
Wir waren immerhin nicht auf der ersten Seite. Wir liefen unter »In Berlin« und »Stadtgeflüster«, »Buntes Leben« oder »Pssst!«. Der Tenor war überall derselbe: Verlobung der Senatorin geplatzt, weil Zweitfrau des Zukünftigen aufgetaucht. Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um zumindest meine sexuelle Unschuld zu beteuern, da sagte er: »Wie trägt es Sigrun?«
»Schlecht«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Utz faltete die Zeitungen zusammen und legte sie sorgfältig in den Papierkorb. »Es sieht so aus, als ob ich dir danken müsste. Es wäre eine unangenehme Situation geworden. All dem … nicht würdig.« Seine Augen wirkten blutunterlaufen, als habe auch er, genau wie seine Tochter, in dieser Nacht keine Minute geschlafen. »Aber«, fuhr er fort, »die Zweifel bleiben. Ist sie es wirklich? Gibt es irgendeinen Beweis?«
Utz schlich in gebeugter Haltung zum Fenster. Ungefähr eine Minute starrte er in den Garten. »Welches Spiel spielst du mit mir?«
Ich glaubte, ich hätte ihn nicht richtig verstanden. »Bitte?«, fragte ich.
Er drehte sich zu mir um. »Welches Spiel spielst du?«, wiederholte er.
Erst da begriff ich. »Ich will dich nicht erpressen, und ich verschweige dir auch nichts.« Ich sprach langsam und hoffte, meine Worte klangen so aufrichtig, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als mir zu glauben. Dass er erkannte, wie absurd es war, mich zu verdächtigen, mit Milla gemeinsame Sache zu machen.
Utz wankte zu seinem Stuhl und sank mit einem Stöhnen zusammen,
das sich Besorgnis erregend anhörte. Dann legte er die Hände vors Gesicht und weinte. Das war zu viel. Zwei Zernikows innerhalb von vierundzwanzig Stunden in Tränen aufgelöst, da fehlte nur noch eine schluchzende Freifrau. Ich sah schnell hinüber in den Erker. Er war leer. Utz holte röchelnd Atem. Schnell vergewisserte ich mich, dass es noch nicht an der Zeit war, den Hausarzt zu verständigen.
»Natalja Tscherednitschenkowa ist tot. Sie wurde in Berlin hingerichtet.«
Ich setzte mich wieder und blickte ihn an. Zeit für die Beichte.
»Sie hatte Medikamente auf dem Schwarzmarkt besorgt. Für mich. Ich hatte Diphtherie. Ohne sie wäre ich nicht mehr am Leben. Sie hat dafür ihr Kreuz versetzt. So ein kleines, goldenes. Das einzig Wertvolle, das sie hatte.«
»Dann begreife ich nicht, warum du diesen winzigen Schritt der Wiedergutmachung nicht tust.«
»Herrgott! Hörst du nicht? Sie ist tot!« Utz starrte mich zornig an. »Sie ist 1944 gestorben. Mit vierzehn Jahren. Kannst du nicht rechnen? Selbst wenn sie vorher noch eine Tochter geboren hätte, wie alt müsste sie dann sein?«
»Bist du dir absolut sicher, dass sie tot ist?«
Utz wurde noch eine Spur bleicher. Er erhob sich mühsam, öffnete den Safe und holte einen dunklen Umschlag heraus. Aus seinem Inneren zog er ein Blatt. Es war alt, vergilbt, war oft gefaltet worden. Ein Original. Auf dem Briefkopf war der Reichsadler zu sehen, darunter stand in gotischen Lettern:
Sondergericht. Es war die Mitteilung an Irene von Zernikow, geborene Freifrau von Hollwitz, dass das Todesurteil gegen Natalja Tscherednitschenkowa am 15. November 1944 um 5 Uhr 42 vollstreckt worden war.
»Und nun«, flüsterte er, »sag mir: Wer ist diese Frau, die sich für ihre Tochter ausgibt?«
Ich starrte auf das Papier. Plötzlich war mir alles klar: Die stoische Weigerung, der Schmerz, die Wut, all das, was ich bei ihm gespürt und das ich
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