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Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Titel: Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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alle Mauern so hoch waren wie diese hier und es auf der Berliner Straße nicht zu einer Zusammenrottung gewaltbereiter Vierbeiner kommen würde.
    »Haun Sie ab, oder ich lass den Hund los!« Kähnrich klang
ernst. Entlang des Weges öffneten sich die ersten Fenster, interessierte Nachbarn brachten sich in Position.
    »Und Natalja?«, rief Marie-Luise mit lauter Stimme, um Milord zu übertönen. »Erinnern Sie sich noch an Natalja Tscherednitschenkowa, die Sie hier versteckt haben?«
    Milords Gekläff brach ab.
    »Sie hat jetzt eine Tochter. Sie braucht unsere Hilfe. Ihre Hilfe.«
    Ich war schon auf dem halben Weg zum Auto und drehte mich wieder zu dem Haus um. Das Tor öffnete sich eine Handbreit, der kantige Schädel kam zum Vorschein.
    »Ihre Tochter?«, fragte Kähnrich. »Die Kleine hat eine Tochter? «
    Marie-Luise nickte. Kähnrich winkte. Wir durften eintreten.
    Wir fanden uns an einem runden Wohnzimmertisch wieder, der innerhalb kürzester Zeit mit selbst gemachter Landleber- und Rotwurst, dicken Brotscheiben und einem Krug mit Apfelmost gedeckt war. Die Tochter des Hauses, eine rundliche Mittfünfzigerin mit gesunder Gesichtsfarbe, nötigte uns zum Essen. Kähnrich selbst rumorte in einem Dielenschrank, bis er endlich mit einem alten Fotoalbum wiederkehrte. Mit einer Handbewegung machte er Platz auf dem Tisch und schlug es auf.
    »Das hier, das bin ich mit meiner Frau. Ganz jung verheiratet waren wir damals. Heute will es ja keiner mehr wissen, aber die Hälfte im Dorf sprach Polnisch. Später sind dann die Franzosen dazugekommen. Und dann die Russen. Klein-Russland nannte man die Gegend damals.«
    Zwei junge, offene Gesichter in Schwarzweiß. Sonntagsstaat für den Fotografen. Er blätterte weiter. Ein Pferdewagen auf einem Getreidefeld, ein Dutzend Männer und Frauen bei der Arbeit.
    »Viel hatten wir nicht, aber bei uns musste keiner hungern. Aber der Weg nach Samtwitz, da stand das Lager, im Sommer ist man da immer auf die leeren Schneckenhäuser getreten. So
einen Hunger hatten die. Die Schneckenhäuser, das waren die Franzosen.«
    Marie-Luise schüttelte sich. Ich wusste nicht, ob sie sich vor Schnecken ekelte. Vielleicht brauchte sie nach den zwei Stullen mit Rotwurst auch nur einen guten Schnaps.
    »Hat Olga Warschenkowa bei Ihnen gearbeitet?«, fragte ich. Ich wollte endlich zum Kern der Sache kommen.
    Kähnrich nickte.
    »Wie lange?«
    »Ziemlich lange. ’41 bis Kriegsende, würde ich sagen. Meine Frau hätte Ihnen mehr erzählen können. Die war richtig eng mit der Olga. Und dann kam auch noch die Kleine aus Berlin …«
    »Natalja?«, fragte Marie-Luise.
    Kähnrich warf seiner Tochter einen Blick zu, den diese ohne Worte verstand. Sie räumte das Geschirr ab und verließ den Raum.
    »Meine Frau ist letztes Jahr gestorben.« Kähnrich starrte in seinen Most.
    »Es war ein schlimmer Winter, ’44/’45. Heute bringen sie ja manchmal was drüber im Fernsehen. Über die Flüchtlinge, wie sie da übers Eis gelaufen sind. Aber über die, die hier waren, bringen sie nichts. Das interessiert doch keinen.«
    Marie-Luise beugte sich zu ihm.
    »Doch. Mich interessiert es. Was ist damals passiert? Und wie kam Natalja zu Ihnen?«
    Kähnrich schwieg. Er sagte lange nichts. Dann rieb er sich mit den alten, kräftigen Händen über die Augen, immer wieder.
    »Meine Frau wollte es mir nicht sagen. Aber man merkt das. Wenn der Hunger im Haus ist, spürt man jeden neuen Esser. Eines Nachts habe ich sie überrascht, auf dem Heuboden. Alle drei. Am liebsten hätte ich sie erschlagen, wie die wilden Katzen, die überall herumgestreunt sind. Die Kleine hat gezittert vor Angst, Olga hatte auf einmal eine Heugabel in der Hand,
und meine Frau … die hat mich festgehalten. Sie wollte kein Unglück. Also hab ich sie nicht erschlagen. Und das war gut so. Als die Russen gekommen sind, sind die beiden raus und haben mit denen gesprochen. Der Kommandant hat dann seine Leute zurückgepfiffen. Geplündert wurde nicht bei uns.« Kähnrich sah uns nicht an. Sein Blick ging hinaus, durch das dunkle Viereck des Fensters, über den Hof.
    »Ein paar Tage später haben sie meine Frau dann doch erwischt … die Russen. In Retzow. Hat alles nichts geholfen. Olga und die Kleine waren schon fort.«
    Die Tür ging auf, und die Tochter balancierte ein Tablett mit vier kleinen Gläsern. Endlich. Alkohol. Kähnrich sah auf und lächelte sie an. Als sie die Gläser vor uns hinstellte, hielt er ihre Hand einen Moment lang fest. Die Frau nickte

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