Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
in der Pulvergrundstoffverarbeitung einer Munitionsfabrik in Spandau, und dann: bei Wilhelm und Irene von Zernikow als Kindermädchen.
Die Flamme zuckte noch einmal und erlosch. Das Gas war alle. Im trüben Licht der Glühbirne schloss ich das Loch im Boden. Dann verteilte ich Stroh darüber. Den Spaten stellte ich an die Stalltür. Milord hob ruckartig seinen Kopf, ließ uns aber passieren.
Im Auto kramte Marie-Luise in ihrer Tasche, holte die Zigaretten heraus und drückte den Anzünder in den Schacht. Es dauerte nur wenige Sekunden, und er sprang heraus. Obwohl die Glut kaum zu sehen war, blendete sie mich.
»Ich verfluche unsere Zeit, weißt du das? Unsere unendliche Möglichkeit zu wählen. Kind oder nicht Kind. Ehe oder ledig. Beruf oder Familie. Und immer, wenn es schiefgeht, müssen wir uns der Tatsache stellen, ganz alleine dran schuld zu sein. Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ich kann kaum was sehen«, erwiderte ich ärgerlich. Zum Beweis ließ ich Wasser auf die Scheiben spritzen, das von den Wischblättern sofort in eine undurchschaubare Schmiere verwandelt wurde.
»Ich wünsche mir ja nur ein Schicksal«, sagte sie leise. »Weißt du, wovor ich am meisten Angst habe?«, fragte sie. Ich zuckte mit den Schultern.
»Dass es blöderweise doch einen Gott gibt.«
»Warum?«
»Stell dir mal vor, alles ist wahr, was man dir erzählt hat. Dann komme ich in die Hölle.«
»Warum solltest ausgerechnet du in die Hölle kommen?«
»Weil …«
Sie schwieg. »Weil ich es weiß«, antwortete sie schließlich trotzig. »Ich weiß, dass ich in die Hölle komme, wenn es Gott gibt. Ich kann also nur beten, dass er nicht existiert.«
»Das ist ein Anachronismus.«
»Das ist mein ganzes Leben«, sagte sie.
21
Nachdem ich Marie-Luise in der Mainzer Straße abgeliefert hatte und wir uns noch ein wenig darüber stritten, wer die Arbeitsbücher behalten sollte, blieb ich Sieger und fuhr mit schlechtem Gewissen nach Hause. Einen Moment lang, als ich den Mercedes in der Tiefgarage sah, war ich erleichtert. Dann fiel mir ein, dass sie sicher der Fahrer gebracht hatte. Die dunkle Wohnung sah nicht gerade vielversprechend aus. Trotzdem schloss ich so leise wie möglich auf und machte im Flur kein Licht. Im Dunkeln zog ich die Schuhe aus und tappte hinüber zum Schlafzimmer. Ich drückte die Klinke herab – die Tür war verschlossen.
Ich griff zum Lichtschalter. Einen Moment war ich geblendet, dann probierte ich es noch einmal, doch die Tür blieb zu. Ich drehte mich um. Jemand hatte ziemlich lieblos mein Bettzeug auf die Couch geworfen. Ich hob die Hand und wollte an die Tür klopfen, dann ließ ich sie sinken.
Nicht jetzt. Nicht heute Abend.
Ich lauschte, doch aus dem Schlafzimmer drang kein Laut. Vermutlich schlief Sigrun schon tief und fest. Hoffentlich ohne Alpträume mit einem Monster in der Hauptrolle, das mir ähnlich sah.
Ich holte Eiswürfel aus dem Gefrierfach und goss mir zwei Fingerbreit Wodka ins Glas. Dann machte ich es mir auf der Couch bequem.
Ich holte die Arbeitsbücher aus der Anzugtasche. Ich überlegte, wo ich sie am sichersten aufbewahren konnte. Natürlich hatten wir auch einen Safe in der Wohnung. Sigruns Wertpapiere, ein überschaubarer Geldbetrag für alle Fälle sowie einige Schatullen mit Familienschmuck wurden dort aufbewahrt. Ich besaß nichts, für das sich ein Safe lohnen würde. Genau betrachtet hatte ich noch nicht einmal genug für einen anständigen Einbruch. Alles,
was ich besaß, war eine Anzahl Kreditkarten, ein Girokonto im Plus und eine anständige Garderobe. Ich war noch nicht lange genug in der Kanzlei, um Reichtümer anzuhäufen.
Ich steckte die Arbeitsbücher in die Ritze zwischen Rückenlehne und Polster. Soweit ich wusste, hatte sich die Putzfrau noch nie so weit vorgewagt.
Ich stürzte den Wodka hinunter und versuchte mich zu erinnern, wie unser Hausmädchen hieß. Ich wusste es nicht. Das Mädchen eben. Legal beschäftigt, auf Steuerkarte und gut bezahlt, aber namenlos. Auch nicht viel besser als Anna, Paula oder Schatz.
Wir mussten reden. Alle. Viel mehr reden. Richtig reden.
Ich holte mir noch einen Wodka, dann zog ich mich aus. Nackt ließ ich mich aufs Sofa fallen und überlegte, wann und wo ich Sigrun am besten abfangen könnte.
Ich ging in den Flur. Ihre Handtasche stand dort, wo sie immer stand, wenn sie nach Hause kam. Sigrun war die erste Frau, die ich kennen lernte, die aus ihrer Handtasche kein Survival-Kit gemacht hatte. Sie brauchte sie einfach
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