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Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Titel: Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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uns freundlich zu und ging wieder hinaus. Kähnrich prostete uns zu und kippte den Inhalt seines Glases in einem Zug hinunter. Wir machten das Gleiche. Birnenschnaps.
    »Sie kann nichts dafür«, sagte er und stellte das Glas ab. »Für mich ist sie meine Tochter.«
    Jetzt endlich kapierte ich.
    Marie-Luise lächelte und fuhr fort. »Die Kleine, wie Sie sie nennen, war das Natalja Tscherednitschenkowa?«
    Kähnrich zuckte mit den Schultern. »Schon möglich. Es ist so lange her. Man müsste graben.«
    Er stand auf und ging zur Haustür. Zögernd folgten wir. Milord fuhr erschreckt von seinem Platz hoch und erwartete Befehle. Kähnrich nahm seine Jacke und trat hinaus.
    »Der Hof ist über zweihundert Jahre alt«, sagte er. »Ein typischer havelländischer Vierseitenhof. Das hier sind jetzt richtige Antiquitäten.«
    Er deutete auf eine Ansammlung von Gerätschaften in der Hofmitte. Pflüge, Kartoffelroder, Rübenschuffeln, Grubber. Im Vorübergehen nahm er einen Spaten in die Hand. Er öffnete die Tür
zu einem niedrigen Stallgebäude. Marie-Luise folgte ohne Zögern, ich sah mich noch einmal um. Ich dachte an das Auto und die vielen Zeugen, die uns hier gesehen hatten. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Kähnrich nicht vor, mit uns dasselbe wie mit den wilden Hofkatzen zu tun. Zudem war er zwar ein kräftiger, aber auch ein alter Mann. Nur Milord machte mir Sorgen.
    Wildes Gemecker begrüßte uns. Eine schwache Glühbirne erleuchtete den Stall. Schafe und Ziegen waren erwacht.
    »Macht mal Platz da«, beruhigte sie Kähnrich mit erhobenem Spaten. Eine Aufforderung, der ich als Schaf augenblicklich Folge geleistet hätte. Dann ging er in die Ecke des Stalles und begann, den Boden abzuklopfen. Wir traten näher. Das Klopfen veränderte sich. Es klang hohl. Kähnrich hörte auf und stützte sich auf dem Stiel ab.
    »Was ist?«, fragte Marie-Luise. »Was machen Sie da?«
    Kähnrich richtete sich auf. »Ich kann kein Russisch. Aber wenn jemand Angst hat, obwohl die eigenen Landsleute draußen mit roten Siegerfahnen vorbeifahren – da stimmt was nicht. Meine Frau hat gesehen, wie die beiden hier gegraben haben. Sie hat es mir erzählt. Aber sechzig Jahre habe ich nicht wissen wollen, was da drin ist.«
    Er reichte Marie-Luise den Spaten.
    »Ich will es jetzt auch nicht. Stellen Sie ihn an die Hauswand, wenn Sie fertig sind.«
    Er ging. Ich sah ihm nach, wie er die Stalltür hinter sich zuzog, ein Mann mit gebeugtem Rücken, aber gerader Haltung.
    Marie-Luise reichte mir den Spaten. Ich klopfte den Boden ab, genau wie Kähnrich es eben getan hatte. Unter den Bohlen befand sich ein Hohlraum. Ich ging in die Knie und versuchte, die Bretter hochzuheben. Als das nicht gelang, benutzte ich den Spaten als Hebel. Die Ziegen kommentierten meine Bemühungen ununterbrochen. Der ganze Stall war in Aufruhr. Ich hätte nicht gedacht, dass sich ein »Bähh« so menschlich anhören könnte.
    »Kommst du voran?«, fragte Marie-Luise.
    »Ich brauche mehr Licht.«
    Sie sah sich um, aber es war nichts Greifbares in der Nähe. Ein Brett wackelte. Ich schob den Spaten darunter und trat mit voller Kraft auf den Stiel. Das Brett flog in hohem Bogen durch die Luft, mitten in die blökende Herde hinein, die auseinanderstob.
    »Hier.«
    Marie-Luise hielt ihr Gasfeuerzeug über die Öffnung. Im Lehmboden befand sich eine Öffnung. Sie hatte ungefähr die Größe eines Schuhkartons und war circa eine Ellenlänge tief. Auf dem Boden lag etwas Dunkles. Ich holte es heraus. Es war ein mit Stoff umwickeltes, schmales Päckchen, zusammengebunden mit Bindfaden. Ich versuchte, den Knoten zu lösen, doch er war zu festgezurrt. Marie-Luise nahm das Feuerzeug.
    »Vorsicht!«, rief ich, doch sie hatte die Flamme bereits an den Faden gehalten, der an dieser Stelle erst glühte und dann riss. Sie gab mir das Feuerzeug und wickelte das Päckchen hastig aus. Dann hielt sie zwei dünne, mit Pappe gebundene Hefte in der Hand. Ich leuchtete, so gut es ging. Es waren Arbeitsbücher. Das erste war ausgestellt auf Olga Warschenkowa. Bevor sie das zweite öffnete, sah Marie-Luise mich kurz an. Ich nickte ihr zu. Sie schlug die erste Seite auf, und ich sah in Millas Gesicht. Ernster und schmaler, mit großen Augen, ähnlich und fremd, das Kinderbild einer alten Frau. Natalja Tscherednitschenkowa, geboren am 14. Juni 1931 in Kiew, Reichskommissariat Ukraine. Marie-Luise blätterte weiter. Ihr Arbeitseinsatz war in Schöneberg beim Fernmeldebunkerbau, dann als Arbeiterin

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