Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
gingen ein paar Schritte die Straße hinunter.
»Die Nachfahren machen heute Birnenschnaps«, erklärte Marie-Luise und nippte an ihrem heißen Kaffee. Wir standen vor einem stolzen alten Haus, von dem ich mir gut vorstellen konnte, dass es Fontane zu seiner Ballade inspiriert haben könnte.
»Und die Jahre gehen wohl auf und ab, längst wölbt sich ein Birnbaum über dem Grab … Es ist ein Märchen. Eine Parabel. Der Alte lässt sich eine Birne mit ins Grab legen, und Jahrzehnte später bricht das Gute wieder durch.«
Sie setzte den Plastikbecher an und trank den letzten Schluck Kaffee. Die Sonne setzte gerade alles daran, goldglühende Romantik über Ribbeck zu werfen. Es war still, nur die Blätter raschelten leise in einer warmen Abendbrise. Ich versuchte mir vorzustellen, es sei ein ganz normaler Ausflug an einem wunderschönen Frühlingsabend. Es gäbe keine ehemaligen Zwangsarbeiterlager in der Nähe, und die Felder, auf denen der Raps blühte und der Futtermais gedieh, seien nicht von Franzosen, Ukrainern und Polen beackert worden, und ich wünschte mir, wir wären ein Land ohne Vergangenheit.
»Es kommt alles wieder«, sagte Marie-Luise leise. »Das Gute und das Böse. Man kann noch so viel Erde draufschütten und es noch so tief begraben, es kommt immer wieder hoch.«
»Ich will nicht mehr«, erwiderte ich.
Marie-Luise kniff den Mund zusammen und stieß einen verächtlichen Laut durch die Nase aus.
»Ich möchte nicht mehr in den Privatangelegenheiten von Leuten herumschnüffeln, die mir nahestehen«, sagte ich.
»Tja, dann hast du Pech gehabt. Ich betrachte mich ab sofort als Anwältin von Natalja Tscherednitschenkowa. Ich werde herausfinden, was damals passiert ist. Ob es den Zernikows passt oder nicht.« Sie trat einen Schritt näher. »Ob es dir passt oder nicht.«
Und das Land breitete seine Arme aus.
Wir hatten Dörfer passiert, in denen die Lehrlingswohnheime »Roter Stern« hießen und der Weltkrieg auf dem Hauptplatz ausschließlich von russischen Soldaten gewonnen worden war. Klemmen bestand, wie die meisten märkischen Dörfer, aus einer Hauptstraße, die in der Mitte eine Kirche umarmte und die drei Dutzend niedrigen Häuser genauso unspektakulär verließ, wie sie gekommen war. Im diffusen Licht einer dunkelblauen Dämmerung hielten wir vor einem niedrigen Haus, das rechts und links von uneinsehbaren Mauern flankiert wurde. Als wir ausstiegen und auf das Tor zugingen, schlug der unvermeidliche Schäferhund erste Töne der Missbilligung an. Ich klingelte.
Nichts rührte sich. Ich klingelte nochmals. Der Hund war nicht amüsiert. Drei Häuser weiter kläffte eine kleinere Ausgabe, dann antworteten die gesamten Tölen der Nachbarschaft. Hinter dem Fenster bewegte sich eine Gardine. Marie-Luise trat entschlossen neben mich und legte den Finger auf den Klingelknopf. Im Haus schrillte es hörbar.
»Milord! Aus!«
Der Hund warf sich gegen das Tor.
»Milord!« Die Männerstimme klang ärgerlich.
In diesem Moment öffnete sich das Tor. Ein alter Mann in Gummistiefeln und Blaumann hielt den Hund am Halsband fest, der sich vor Aufregung fast strangulierte.
»Herr Kähnrich?«
»Jou.«
»Bitte entschuldigen Sie die späte Störung. Ich … Wir …«
Ich stockte. Was sollte ich ihm sagen? Milord röchelte.
»Wollen Sie nicht den Hund loslassen?«, fragte ich, um Zeit zu gewinnen.
»Kommt drauf an, was Sie von mir wollen.«
Milord jaulte auf, wohl um daran zu erinnern, dass er jetzt gerne das Kommando zum Zerfleischen hätte.
»Ja, also …« Auch Marie-Luise kam ins Stocken.
Kähnrich verengte die Augen zu winzigen Schlitzen. Dann beugte er sich zu dem Hund.
»Freund.«
Milord wurde schlagartig zu einem liebenswürdig winselnden Kuscheltierchen, das freudig an unseren Schuhsohlen schnupperte. Ich würde in seiner Gegenwart das Wort »Feind« nicht in den Mund nehmen.
»Was wollen Sie denn wissen?«
»Hat bei Ihnen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges eine Frau namens Olga Warschenkowa gearbeitet? Eine Fremdarbeiterin? «
Kähnrich kratzte sich am Hinterkopf. Ich hielt den Atem an.
»Fremdarbeiterin?«, fragte er. Wir nickten unisono.
»Mumpitz.«
Er warf uns das Tor vor der Nase zu. Milord dahinter knurrte gefährlich. Ich versuchte mich an einem bedauernden Gesichtsausdruck.
»Komm. Es hat keinen Zweck.«
Doch sie streckte die Hand aus und klingelte erneut. Milord begann, unterstützt von den anderen Kläffern, erneut sein infernalisches Gebell. Ich hoffte nur, dass
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