Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
nicht mehr, wenn der Arbeitstag vorbei war. Ich griff hinein und holte ihr Filofax heraus. Dann schlich ich wieder ins Wohnzimmer und zündete die Kerze auf dem Beistelltisch an. Ich hatte kein schlechtes Gewissen. In dieses ordentliche Ding trug sie nur ihre beruflichen Termine ein. Private gab es schon lange nicht mehr. Ich schlug den Sonnabend auf. Whlk.A., stand da. Plak., 10.00 Uhr, RE. Übersetzt hieß das: Wahlkampfauftakt, Plakate kleben, Roseneck.
Ich nahm den Kugelschreiber und setzte dazu: 11.00 Uhr. J. Ausspr. Glauben. Verzeihen. In Klammern setzte ich dazu: (Sx.). Ich fand das angesichts der späten Stunde sehr witzig von mir und wollte den Timer zuklappen, als er mir aus der Hand rutschte und auf den Teppichboden fiel. Ich hatte vor, hinter das »Sx.« ein Fragezeichen zu setzen. Das nahm dem Vorsatz sozusagen die Spitze und wirkte noch ein bisschen mehr nach vorläufiger Unentschlossenheit,
die sich in humorvoll großzügiges Hinwegsehen über meine Unzulänglichkeiten verwandeln sollte. Ich suchte nach dem richtigen Datum. Der Timer hatte sich am Dienstag dieser Woche aufgeschlagen. 9.30 h Sitzg. Soz.auss. 11h Jgdfrzthm. Grünau (Ulag.). 13 h Wittk., Vau. – Wittkowski war der kulturpolitische Sprecher der Fraktion. Die Eintragungen waren dicht gedrängt und bis zur Unkenntlichkeit abgekürzt. Vermutlich wusste nur Sigrun, was sich hinter RfÖ/Schwtz. verbarg oder hinter FSpWi. § 9! – su.Rtg. Oder 00.00 h. M. Tsch.
Mitternacht. Dienstag. M. Tsch.
Mein Mund war trocken. Ich stürzte den Wodka hinunter. Dann blies ich die Kerze aus und trug den Timer zurück zu Sigruns Tasche. Ich blieb vor der verschlossenen Schlafzimmertür stehen. Sollte ich sie eintreten und sie auf der Stelle fragen, was diese Eintragung zu bedeuten hatte? M. Tsch. 00.00 Uhr. Am Dienstag. Massig Taschenbücher, um besser einzuschlafen? Mehr Titelgeschichten? Muntere Tschetschenen?
Oder ein Treffen mit einer jungen Frau, die Milla Tscherednitschenkowa hieß und seitdem verschwunden war?
Es schlief sich nicht gut auf der Couch. Ich hatte keinen Pyjama, und es war kalt. Und ich wusste, dass ich keinem Menschen mehr trauen konnte.
22
Roseneck. Im Herzen von Sigruns Wahlkreis.
Ein richtiger kleiner Pressetermin war organisiert worden. Keine zehn Schritte von dem Laternenpfahl entfernt, von dem aus mich Sigrun nun für die kommenden Wochen kompetent und zuversichtlich anlächeln würde, hatte ihre Partei einen kleinen Stand aufgebaut. Fünf mit Argumenten und Werbekrimskrams bestens ausgestattete Ortsverbandsmitglieder waren bereit, sich
für ihre Spitzenkandidatin vierteilen zu lassen. Ein knappes Dutzend Journalisten war erschienen, um diesem denkwürdigen Moment beizuwohnen. An sie wurde Kaffee ausgeschenkt. Brötchen gab es keine, wurde einem missmutigen Fotografen mitgeteilt, leere Kassen, also auch keine Schnittchen. Er wurde an die Wiener Feinbäckerei ein paar Schritte weiter verwiesen.
Der Fotograf war Dressler. Brettschneider stand ein paar Schritte weiter und stöberte in den Faltblättern.
Ich hielt mich im Hintergrund. Wenn Sigrun um zehn einen Termin hatte, war sie seit mindestens acht Uhr auf den Beinen. Ich überlegte, ob sie meine Notiz schon gelesen hatte. Ich hoffte, nicht. Mir war es lieber, wenn ich den Überraschungseffekt auf meiner Seite hätte.
Dressler kam mit einer Brötchentüte zurückgeschlurft, holte sich Kaffee und betrachtete kopfschüttelnd eine Fußbadewanne in der Auslage eines Haushaltswarengeschäftes. Ein Kamerateam des ZDF traf ein und brachte sich in Position. Eine Agenturpraktikantin mit gezücktem Notizblock und einer unglaublich hässlichen Brille begrüßte eine Kollegin zu überschwänglich, um sie tatsächlich zu mögen. Es war kurz nach zehn.
In diesem Moment tauchte das Wahlkampfmobil auf. Ein Peugeot Megane, beklebt mit den drei großen Buchstaben der einzig wahren Partei der Mitte und Sigruns Konterfei. Es fuhr ein wenig verwirrt auf und ab, weil sich dummerweise kein Parkplatz direkt vor der Laterne fand. Die Presse brachte sich in Position, das Wahlkampfmobil schaltete die Warnblinkanlage an und stellte sich in die zweite Reihe.
»Na, na, na«, machte Dressler neben mir. »Das gehört sich aber nicht.«
Ich drehte mich zu ihm um, aber er bemerkte mich nicht. Die Praktikantin mit der Brille hatte es ihm angetan. Sie war aus dem Pulk herausgetreten und hatte sich, so wie wir, etwas abseits gehalten. Sie notierte sich etwas auf ihren Block.
Ein Mann stieg aus und
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