Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Bremse, als ich den Schatten sah. Langsam rollte ich in die Ausfahrt. Vor mir stand Walter, in der Hand eine Axt, die er schwer in seinen Händen wog. Er versperrte mir den Weg. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn einfach über den Haufen zu fahren. Doch da trat er schon mit düsterer Miene zur Seite. Ich nickte ihm fröhlich zu und rollte an ihm vorbei.
Es war früher Nachmittag. Ich hatte keine Termine mehr, keinen Job, keine Wohnung und keine Verlobte. Wenn ich ehrlich war, war ich in diesem Moment nicht allzu unglücklich. Aufbruch. Neue Ufer. Zum Nachdenken war immer noch Zeit genug. In weniger als dreißig Minuten war ich in der Mainzer Straße.
Ich parkte in der zweiten Reihe und wollte gerade aussteigen, als sich Marie-Luises Haustür öffnete und Schmiedgen auf die Straße trat. Ich musste zwei Mal hinsehen, denn ich bekam das Bild des toskanischen Rotwein trinkenden Mitte-Links-Verteidigers mit Marie-Luises Haustür nicht in Einklang. Doch er war es. Das krause graue Haar flatterte um seine Schultern wie frisch gewaschen, die Wangen glänzten rosig, den Kugelbauch streckte er der Sonne entgegen. Er sah sich blinzelnd um – das Treppenhaus war so dunkel wie der Kohlenkeller. Dann richtete er sich seine Krawatte. Ich war hinter dem Lenkrad zusammengesunken und hoffte inständig, dass seine kleinen Schlitzaugen nicht an meinem Wagen hängen blieben. Schmiedgen war kurzsichtig und trug im Gericht immer eine Brille. Genau die fummelte er jetzt aus seiner Brusttasche und setzte sie auf. Zügig ging er ein paar Schritte weiter, schloss die Tür zu einem dunkelblauen Audi auf und fuhr davon. Ich nahm seinen Parkplatz.
Es dauerte keine Minute, bis ich vor Marie-Luises Tür stand und klingelte. Ich hörte die Schritte von nackten Füßen, dann wurde ungestüm geöffnet.
»Hast du vergessen!«, rief sie. Mit zerzausten Haaren und im Kimono schwenkte sie ein seidenes Einstecktüchlein. Sie erstarrte mitten in der Bewegung.
»Schon weg«, sagte ich und schnappte das Tüchlein. »Ich hab nachher noch was im Gericht zu erledigen, ich gebe es ihm dann.«
Marie-Luise hielt sich mit der nun freien Hand den Ausschnitt vor der Brust zusammen. Nötig wäre das nun wirklich nicht gewesen, wir kannten uns schließlich lange genug.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie. Es klang nicht gerade nach einem herzlichen »Hereinspaziert«.
Ich drückte mich an ihr vorbei in den Flur, sie schloss die Tür. Die Hand immer noch am Ausschnitt. Mein Gott, was glaubte sie, das ich ihr wegsehen könnte?
»Es ist halb drei. Am helllichten Tag. Soweit ich weiß, ist er verheiratet.«
»Spinnst du? Was willst du eigentlich? Nur so auf einen Kaffee vorbeischauen?«
Sie ging in die Küche. Ich kannte den abgebeizten Tisch genau, die vier Stühle, die alte Nussbaumanrichte ihrer Kaulsdorfer Großmutter, das Poster von Che Guevara, das sie von einer Kubareise mitgebracht hatte, als sie noch zu den Hoffnungsträgern der einstigen sozialistischen Hälfte Deutschlands gehörte. All die Devotionalien einer Weltanschauung, die sich sogar noch in der Wahl der Vorhänge widerspiegelte: grob gewebtes indisches Leinen. Sie stellte einen Wasserkessel auf, ein untrügliches Zeichen für einen Kaffee nach Kaulsdorfer Art, mit zwei Löffeln grob gemahlenen Bohnen pro Tasse, kochendes Wasser drauf, fertig. Sie vergaß die Hand am Ausschnitt, und ich vergaß, dass ich nicht hinsehen wollte.
»Ach so.« Sie hatte meinen Blick bemerkt. »Ich zieh mir was an.«
Ich hatte viel zu verdauen gehabt in den letzten Tagen. Bis eben war ich der Meinung gewesen, dass ich mich ganz gut gehalten hatte. Und nun das. Schmiedgen und Marie-Luise. Der in meinen Augen unattraktivste Mann nach Berti Vogts und die junge, an seinen Lippen und Gott weiß wo noch hängende Prozessanwältin, beide gemeinsam im Bett. Meine Phantasie weigerte sich strikt, mir das in Bildern auszumalen.
Ich goss den Kaffee auf, wobei ich darauf achtete, dass mir das kochende Wasser nicht die Hand verbrühte. Dann holte ich das seidene Tüchlein heraus. Schmiedgen musste zwanzig Jahre älter
sein als sie. Da ging es wohl nicht ums Erotische, sondern um die Ideologie. Warum sonst vögelte sie mit einem dicken, alten Mann, der ihr im Bett nicht annähernd das bieten konnte, was …
»Neidisch?«
Sie erschien in dem Kostüm, das sie bei der Anhörung getragen hatte.
»Gib es her.«
Sie schnappte sich das Tuch und steckte es in ihre Jackentasche. »Also?«
Es war wichtig, dass man den Kaffee
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