Das Kleine Buch Der Lebenslust
vermag ich ihn nicht zu sehen. Wenn ich so lebe, kann ich auch nicht in das Himmelreich eingehen: in das Reich, in dem man die Sonne in Blecheimer schaufelt und die Liebe in jeder Blüte erkennt.
Die Erde – eine Himmelsblume
„Wir nannten die Erde eine der Blumen des Himmels, und den Himmel nannten wir den unendlichen Garten des Lebens.“ Friedrich Hölderlin ist wohl der deutsche Dichter, der die schönste Sprache spricht. Dem Zauber ihres melodiösen Flusses kann man sich kaum entziehen. Dieser Zauber ist freilich nichts Oberflächliches. Schönheit und Schmerz gehen hier zusammen.
Die Erde ist eine Blume, die die Schönheit des Himmels in sich trägt, die den Himmel über uns öffnet: Wenn ich dieses Wort in mein Herz fallen lasse, dann verändert es meine Augen. Ich werde mit einem anderen Blick auf diese Erde schauen. Ich werde nicht fixiert sein auf die Verwüstung und Zerstörung, die Menschen dieser Erde angetan haben. Ich muss dies alles nicht leugnen oder verdrängen, und ich werde trotz allem sehen, wie die Blume die harte Erde durchbricht, wie sie wächst, wie sie Knospen treibt und schließlich die Blüte aufgehen lässt.
Wenn der Himmel für Hölderlin der „unendliche Garten des Lebens“ ist, klingen biblische Bilder an. Die Schöpfungsgeschichte spricht vom Garten desParadieses, in dem der Mensch im Einklang war mit sich und Gott und mit der ganzen Schöpfung, wo er glücklich und zufrieden war. Das Hohe Lied spricht vom Garten der Liebe, in dem sich Braut und Bräutigam treffen, um die Liebe miteinander zu genießen. Doch der schönste Garten, von dem die Bibel spricht, ist für mich der Garten der Auferstehung. In ihm begegnet Maria von Magdala dem Auferstandenen und erfährt eine Liebe, die stärker ist als der Tod. Wenn Hölderlin den Himmel den unendlichen Garten des Lebens nennt, dann klingt in seinen Worten etwas wieder vom Garten der Auferstehung, der den begrenzten Garten des Paradieses entgrenzt und uns den unendlichen Garten des Lebens öffnet, den Gott uns geschenkt hat, damit wir ohne Ende uns an seiner Schönheit erfreuen.
Setz dich ins Gras und öffne die Augen
„Wenn wir uns nicht glücklich fühlen, so liegt das daran, dass wir vergessen, dass bereits gesunde Augen ein Grund zum Glücklichsein sind. Wir brauchen uns nur ins Gras zu setzen, unsere Augen zu öffnen und mit Achtsamkeit zu schauen. Dann erkennen wir das Paradies der Formen und Farben.“ Thich Nhat Hanh, der buddhistische Mönchspoet aus Vietnam, lehrt seine Schüler und Schülerinnen den Weg der Achtsamkeit. Achtsam im Augenblick zu sein, das ist für ihn mehr als nur eine Übung der Konzentration, es ist der Weg zum Glück. Dass sich viele Menschen nicht glücklich fühlen, liegt für ihn in der mangelnden Achtsamkeit begründet. Es braucht nicht viel zum Glück. Es braucht nur die Achtsamkeit. Wenn wir dankbar sind für das, was wir wahrnehmen, dann sind allein die gesunden Augen schon eine Quelle des Glücks. Täglich dürfen unsere Augen wunderbare Dinge sehen. Aber es braucht die Übung der Achtsamkeit, damit wir die Wunder auch bewusst wahrnehmen, die sich unserem Auge täglich darstellen: das Wunder einer Rose, das Wunder eines Berges, das Wunder eines Käfers, der unserenWeg kreuzt, das Wunder eines menschlichen Antlitzes.
Im Steigerwald besitzt unsere Abtei Münsterschwarzach einen kleinen Hof, den Winkelhof, zu dem wir Mönche uns zurückziehen können. Er liegt mitten in wunderbaren Wäldern. Wenn ich im Herbst auf die bunten Wälder schaue, wie sie im Sonnenlicht erstrahlen, dann habe ich den Eindruck, dass Gott ein wunderbarer Maler ist. Er hat über die Bäume Farben ausgestreut, wie es kein Künstler besser könnte. Nicht umsonst sprechen wir vom goldenen Oktober, wenn die Blätter in der Sonne golden glänzen. Wenn ich ganz im Schauen aufgehe, dann erlebe ich eine tiefe innere Freude. Dann schaue ich in das „Paradies der Formen und Farben“, das der Dichtermönch aus Vietnam gemeint hat.
Durch die Blume
„Euch (Blumen) erzog zu Lust und Wonne/ Ja, euch liebte die Natur.“ (Friedrich Schiller) Schiller meint nicht, dass die Blumen Lust empfinden können wie der Mensch. Doch für ihn sind die Blumen von der Natur dazu erzogen worden, Lust und Wonne zu sein. Letztlich ist es nicht die Natur, die die Blumen liebt und sie mit Lust und Wonne erfüllt hat, sondern der Schöpfer der Natur. Der Dichter spürt in den Blumen sichtbar, oft auch riechbar gewordene Lust. Es liegt am Menschen, diese Lust,
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