Das Kleine Buch Der Lebenslust
In unserer Seele erklingt der oft unhörbare Klang des Kosmos, der göttliche Klang einer Welt, die uns oft nicht zugänglich ist. Die Stille ist die Türe, die unser inneres Ohr aufschließt, damit es diesen wunderbaren Klang unserer Seele zu hören vermag.
Anschwellende Freude
Der französische Dichter André Gide schreibt einmal: „Zuzeiten wurde meine Freude so groß, dass ich etwas von ihr mitteilen wollte – irgendeinen lehren, was sie in mir so lebendig machte.“ Es gibt eine stille Freude, die man lieber für sich behalten möchte. Sie erfüllt das Herz mit Heiterkeit und inneren Frieden. Man strahlt sie aus, aber man kann nicht über sie sprechen. Sie ist einfach da. Aber es gibt auch Freuden, die einfach zur Mitteilung drängen, die das Herz zum Überlaufen bringen. Es muss nicht eine laute Freude sein über einen Erfolg oder eine Liebe, die einem geschenkt wurde. Es gibt Augenblicke, in denen die Freude in uns so groß wird, dass wir sie nicht mehr für uns behalten können. Die stille Freude kann dann so anschwellen, dass wir sie einem andern mitteilen müssen. André Gide genügt es nicht, seine Freude nur mitzuteilen. Es drängt ihn dazu, einem anderen zu erklären, warum seine Freude in ihm so stark ist. Er will andere aufklären darüber, was die Freude in ihm so lebendig macht. Das ist ein schönes Motiv für das Schreiben: die eigene Erfahrung, die eigene Lebendigkeit, die eigene Lebenslust anderenmitzuteilen, aber nicht um in den anderen Neid zu erwecken, sondern ihnen zu erklären, wie die Freude einen erfüllen und zum Leben führen kann. Schreiben ist ein Aufklären, damit sich das Dunkle im Menschen erhellt und das Traurige zur Freude wird.
Schöner Götterfunke
In seiner Neunten Symphonie hat Beethoven Schillers „Ode an die Freude“ vertont. Es ist ein Menschheitsgesang geworden, der häufig in Augenblicken großer Freude und Dankbarkeit erklingt. Melodie und Text sind eine Einheit und berühren die Menschen immer wieder. Friedrich Schiller nennt die Freude einen schönen Götterfunken und Tochter aus Elysium. Sie ist ein Funke, den die Götter in unser Herz gelegt haben, und sie stammt aus dem Land der Seligen. Schiller besingt sie als sanften Flügel, der die Menschen miteinander verbindet. Sie ist die große Bewegerin. Sie treibt die Räder an, lockt die Blumen aus den Keimen, gibt dem Forscher neue Ideen ein. Und sie fördert in uns die Tugend – als Bedingung, dass unser Menschsein gelingt. Beethovens Musik lässt selbst in den Herzen der Menschen die Freude wachsen: Freude, der große Antrieb zu erfülltem und beglücktem Leben.
Unsäglich mehr
Rainer Maria Rilke stellt die Freude weit über das Glück. „Glück bricht über die Menschen herein, Glück ist Schicksal, Freude bringen sie in sich zum Blühen, Freude ist einfach eine gute Jahreszeit über dem Herzen; Freude ist das Äußerste, was die Menschen in ihrer Macht haben.“ Das Glück – so meint Rilke – kann man nicht machen. Man kann es nur dankbar entgegen nehmen. Für die Freude sind wir selbst verantwortlich. Es liegt an uns, wie wir auf unser Schicksal reagieren, wie wir auf die Schönheit der Welt und auf die Menschen reagieren, denen wir täglich begegnen. Ich kann mir die Freude nicht einfach befehlen. Aber wenn ich mich offen auf das einlasse, was ist, und wenn ich es mit einem staunenden und ehrfürchtigen Blick wahrnehme, dann wird in mir die Freude wachsen. Ich kann mich also einüben in die Freude. Ich kann sie wachsen lassen, wenn ich sie durch ein achtsames Umgehen mit den Dingen nähre.
Voll Wonne, voll Wonne
Der indische Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore spricht in einem seiner Gedichte von den Festen, die die Freude feiert:
„Wo die Freude ihre Feste feiert, sitz ich zu Tisch.
Voll Wonne, voll Wonne ist das Leben.
Die Stadt der Schönheit durchwandern meine Augen,
satt sich schauend,
versunken meine Ohren lauschen
der tiefen Melodie.“
Dort, wo die Freude feiert, setzt der Dichter sich gerne zu Tisch. Da muss er sich niederlassen. Die Freude kann man nicht im Vorübergehen mitnehmen. Sie braucht Zeit. Ich muss mich niederlassen, um die Freude zu genießen. Am Tisch der Freude zu sitzen öffnet mir die Augen, dass ich überall die Wonne des Lebens entdecke. Die Freude lässt mich mit meinen Augen die Schönheit erkennen, die mich jederzeit umgibt. Wenn ich die Stadt der Schönheit mit meinen Augen durchwandere, dann werde ichsatt. Auch Tagore verwendet also das Bild der Nahrung:
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