Das Kleine Buch Der Wahren Liebe
zwischen Nähe und Distanz. Wenn ich nur Distanz zum anderen halte, dann verhungert er. Ein Mann erzählte mir, er sei erfroren neben seiner Frau. Denn er war nie gut genug. Sie hat immer nur das gesehen, was ihm fehlt. Sie hat nicht verstärkt, was in ihm ist. Und sie konnte ihm vor lauter Urteilen und Bewerten keine Wertschätzung geben und keine Nahrung und keine Wärme. Es braucht immer ein gutes Miteinander von Nähe und Distanz. Die Nähe des anderen nährt uns. Aber wenn sie zum Festklammern wird, wird die Nahrung einseitig und ungesund.
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Respekt kommt von
respicere
, nochmals auf den anderen schauen. Weil ich im Alltag oft am anderen vorbeisehe, halte ich inne, um nochmals einen Blick auf ihn zu werfen, ihn von Neuem anzusehen. Respekt heißt auch; Rücksicht nehmen, wieder von Neuem auf den anderen sehen, um ihn zu beachten. Ich gehe nicht an ihm vorbei. Ich drehe mich um, um auf ihn zu sehen. Das deutsche Wort „ansehen“ hat ja eine tiefere Bedeutung. Wenn ich jemanden ansehe, schenke ich ihm Ansehen, schenke ich ihm Wertschätzung. Im Anschauen drücke ich ihm meine Wertschätzung aus. Ich schätze seinen Wert, seine Würde, seine Einmaligkeit und Einzigartigkeit. In Gesprächen höre ich oft: „Mein Mann sieht mich gar nicht. Er sieht nur seine eigenen Sachen. Ich fühle mich völlig übersehen.“ Wenn der Mann die Frau kaum ansieht, dann fühlt sie sich übersehen. Dann leidet sie an seiner mangelnden Wertschätzung.
Aber diese Wertschätzung soll nicht nur in einem Blick ausgedrückt werden, sondern auch mit Worten. Der andere braucht meine Worte, die seinen Wert ansprechen, damit er an seinen eigenen Wert zu glauben vermag. Die Wertschätzung wird auch in Geschenken ausgedrückt. Dabei geht es nicht um den materiellen Wert der Geschenke. Manche versuchen durch die Höhe des Geschenkes ihre Wertschätzung auszudrücken. Doch manchmal erscheint das Geschenk als Ersatz für die Wertschätzung, die im Alltag fehlt. Dennoch braucht die |99| Liebe immer wieder das Schenken. Das deutsche Wort „schenken“ kommt ja aus der Sprache des Wirtes. Der Wirt schenkt mir etwas ein, damit ich meinen Durst löschen kann. So geht es im Geschenk darum, etwas zu suchen, was den Durst des anderen nach Liebe löscht, was ihn auf seinem Weg nährt. Nicht der materielle Wert macht das Geschenk aus, sondern die Phantasie und die Liebe, die ich hineinlege.
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Die Liebe lebt von der Spontaneität und Kreativität. Und doch braucht sie auch konkrete Formen, damit sie nicht verblasst. Gefühle kommen und gehen. Es braucht Anhaltspunkte, an denen ich mit dem Gefühl der Liebe in Berührung komme. Solche Anhaltspunkte und Erinnerungspunkte sind die Rituale. Sie halten meine Liebe lebendig. Sie sind der Ort, an dem Gefühle ausgedrückt werden, die sonst nie ausgedrückt werden. Sie vertiefen die Beziehungen zwischen den Menschen und schaffen eine gemeinsame Identität. Sie verbinden uns auf einer tieferen Ebene als der des Verstandes und des Willens, tiefer auch als das Gefühl. Das gilt vor allem für die Rituale der Zweisamkeit. Manche Paare haben das Ritual, sich am Morgen mit einem Kuss zu begrüßen und sich abends mit einem Kuss in die Nacht zu verabschieden. Das mag flüchtig erscheinen. Aber wenn das Ritual täglich geübt wird, gibt es doch jeden Tag zumindest eine zärtliche Berührung des anderen. Manchmal wird der Kuss intensiver sein, manchmal ist er nur der alltägliche Vertrauensbeweis, dass es uns um die gemeinsame Liebe ernst ist.
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Zu Beginn einer Partnerschaft schreiben wir dem anderen oft einen Brief, in dem wir ihm unsere Liebe ausdrücken. Wenn Partner zusammen sind, denken sie, sie könnten alles miteinander besprechen. Doch von Zeit zu Zeit ist es auch da gut, dem anderen einen Brief zu schreiben. Der Brief braucht immer einen besonderen Anlass, entweder den Geburtstag oder Hochzeitstag oder aber eine schwierige Situation, in der man sich im Gespräch nicht näherkommt und keine Klarheit gewinnt. Für einen Brief nehme ich mir Zeit. Ich setze mich hin und überlege genau, was ich dem anderen schreibe. Ich schreibe voller Wohlwollen und Liebe. Ich bitte beim Schreiben, dass Gott mir die richtigen Worte eingebe. Und ich schreibe das, was ich dem anderen schon längst einmal sagen wollte, was ich aber oft nicht übers Herz bringe, ihm zu sagen. Ich kann ihm versichern, wie wichtig er für mich ist, wie sehr ich ihn liebe und wie dankbar ich für seine Liebe bin. Solche Briefe
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