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Das kleine Reiseandenken

Das kleine Reiseandenken

Titel: Das kleine Reiseandenken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berte Bratt
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verrannen. Sie wurden zu einer halben Stunde. Zu einer ganzen Stunde…
    Ingrid lehnte den Kopf gegen das Treppengeländer. Zwei große Tränen kullerten ihr über die Backen. Und gleich darauf noch zwei – und wieder zwei.
    Dann kam ein Ton von weither zu ihr.
    Es war die Melodie der Rathausuhr, auf die acht schwere Glockenschläge folgten. Da öffnete Ingrid ihre Schultertasche und suchte nach einem Stück Papier. Ganz auf dem Grunde fand sie einen kleinen, zerknüllten Zettel. Einen von Inges Merkzetteln aus den ersten Tagen in Kopenhagen. Einen Bleistiftstummel hatte sieauch. So schrieb sie denn „Gruß Ingrid!“ darauf und steckte den Zettel durch den Briefschlitz.
    Ihre Füße waren schwer wie Blei, als sie langsam die Treppe hinunterschritt. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so allein gefühlt.
    „Na, du bist ja lange ausgeblieben“, sagte Tante Agate. „Sie hat dich wohl zu Mittag eingeladen?“
    „Ja“, sagte Ingrid leise. Kaum hatte sie es ausgesprochen, da wunderte sie sich über sich selbst. Warum log sie? Es war doch keine Schande, daß Inge nicht zu Hause gewesen war.
    Ja, weshalb eigentlich? Es kam ihr nicht zum Bewußtsein, daß sie ihre Niederlage mit niemand teilen wollte. Am allerwenigsten mit Tante Agate.
    Die unendlich lange Wartezeit und die schreckliche Enttäuschung, die bösen Stunden auf der Treppe vor Inges verschlossener Tür – sie gingen niemand anderes etwas an als sie selbst. „Was habt ihr gegessen?“
    „Würstchen und Kartoffelsalat“, sagte Ingrid. Sie nannte das Gericht, das sie am ersten Tage bei Inge bekommen hatte.
    „Teuer und unergiebig“, sagte Tante Agate, „Würstchen sind mit das Kostspieligste, was man essen kann.“
    Teuer – teuer – kostspielig – unergiebig – Ingrid konnte alle diese Wörter kaum noch hören.
    Sie hatte den Mantel aufgehängt, jetzt setzte sie Wasser auf für den Aufwasch und räumte das gebrauchte Geschirr beiseite.
    Der Hunger quälte sie fürchterlich. Aber erst als sie ganz sicher war, daß Tante Agate schlief, erhob sie sich von ihrem Sofa und schlich in die Küche. Sie konnte den Brotkasten geräuschlos aufmachen und angelte sich im Finstern ein Stück trockenes Brot heraus.
    Dann tappte sie leise in die Stube zurück, kaute das Brot im Bett und schluckte es zusammen mit ihren Tränen hinunter.

Die kleine Seejungfrau
     
     
    Ein paarmal war Ingrid drauf und dran, Onkel Peter zu schreiben: „Bitte, holt mich zurück! Ich halte es nicht aus! Ich werde hier nur ausgenutzt, alles ist ganz anders als ich es mir dachte!“
    Wenn sie es doch nicht tat, hatte es zwei Gründe: Sie erinnerte sich nur gut an das Gespräch, das sie mit Onkel Peter und Tante Margrete gehabt hatte, als der Brief aus Kopenhagen kam.
    Die Pflegeeltern hatten Bedenken gehabt, ein so junges Mädchen allein in ein anderes Land zu schicken, zu einem Menschen, von dem sie sehr wenig wußten. Und Ingrid war es selbst gewesen, die ihnen die Bedenken ausgeredet hatte, die ihnen klargemacht hatte, wie wertvoll es sei, etwas von der Welt zu sehen, während man noch jung war. Und wenn Mutti dort gearbeitet hatte, wäre das doch eine Garantie für die Leute! Frau Jespersen würde bestimmt nett zu ihr sein!
    Sollte sie jetzt, nach so kurzer Zeit, zugeben müssen, daß sie sich schrecklich geirrt hatte? Sollte sie, nach all den großen Worten damals, ganz kleinlaut bitten, wieder nach Hause geholt zu werden? Sollte sie Onkel Peter um all das Geld bitten, das man für die Fahrkarte bezahlen müßte?
    Der zweite Grund, warum sie alles aushielt, war Inge. Es hatte sich eine so schöne Freundschaft zwischen der großen und der kleinen Ingrid entwickelt. Wer weiß, dachte Ingrid. Vielleicht kann es anders werden. Vielleicht passiert irgend etwas, so daß Tante Agate mich nicht mehr braucht. Vielleicht möchte Inge mich dann zurückhaben…
    Also biß Ingrid die Zähne zusammen und schuftete weiter.
    Ingrid hob den Kopf und lauschte. Sie hatte Hundegebell auf der Straße gehört. Es erinnerte sie an irgend etwas unendlich Liebes undWohlbekanntes. Und dann hörte sie eine helle fröhliche Stimme: „Pfui, Dixi! Geh ordentlich!“
    Wie der Wind war sie durch den Korridor und auf den Treppenflur hinausgelaufen und riß die Haustür auf. „Inge! Bist du es wirklich?“
    Sie zog sie mit sich in den dunklen Hausflur und flüsterte, rasch und atemlos: „Hast du meinen Zettel gefunden? Inge, sag der Tante nicht, daß du nicht zu Hause warst. Ich hab gesagt, ich hätte bei dir zu

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