Das kleine Reiseandenken
taub.
Ingrid bekam eines Tages einen Brief von Tante Margrete. Elke hatte einen Gruß druntergeschrieben, und Monika mit ihren großen Kinderbuchstaben auch:
Den Kanienchen get es gut, und das grose weise hatt acht Junge gekriecht und ich geb ihm jehden Tag Kollrabi. Vile Grüse deine Monika.
An diesem Abend holte Ingrid den Briefblock und den Kugelschreiber, den sie von Inge bekommen hatte, und während Tante Agate die Zeitung las, setzte sie sich hin und schrieb einen Brief.
„An wen schreibst du?“ fragte Tante Agate.
„An Onkel Peter und Tante Margrete.“
„Also nicht an Fräulein Skovsgaard?“ Es klang beinahe lauernd, mißtrauisch.
„Nein, Tante“, sagte sie und fuhr mit fester Stimme fort: „Wenn ich an Fräulein Skovsgaard schreiben würde, dann würde ich doch nicht sagen, daß ich an Tante Margrete schreibe.“
Sie fing den Blick der Tante auf, und plötzlich hatte sie eine Eingebung. Sie nahm einen neuen Bogen, schrieb langsam und deutlich, erzählte jedes kleinste bißchen über ihr Leben bei der Tante, ohne sich indessen zu beklagen; sie erzählte nur, wie es war. Sie schrieb auch von Inge Skovsgaard, von dem schönen Abend im Tivoli und wie furchtbar gern sie Inge hätte. Sie schrieb lang und ausführlich - und sie schrieb mit den alten, deutschen Buchstaben, „gotisch“, wie Onkel Peter gesagt hatte. Er hatte Ingrid auch diese Schrift beigebracht, nur so zum Spaß.
„So lernten wir alle schreiben zu meiner Zeit“, hatte Onkel Peter gesagt, und Tante Margrete nickte und gab zu, daß diese seltsamen Buchstaben ihr noch heute vertrauter waren als die gewöhnlich lateinischen.
Als sie endlich den Kugelschreiber aus der Hand legte, geschah, was sie hatte kommen sehen.
„Zeig mal her, was du so geschrieben hast“, sagte Tante Agate und griff nach dem Briefbogen. Sie warf einen Blick darauf und legte ihn dann mit ärgerlicher Miene wieder hin.
„Habt ihr noch immer diese lächerlichen Buchstaben? Die kann doch kein Mensch lesen.“
„Ältere Leute gebrauchen sie immer noch“, sagte Ingrid ruhig. „Und Tante Margrete kann die gotischen Buchstaben am besten lesen.“
Im selben Augenblick wurde Ingrid sich bewußt, daß sie gelogenhatte. Tante Margrete konnte lateinische Buchstaben genausogut lesen. Aber Tante Agate selbst hatte sie dazu getrieben, daß sie jetzt log.
Und es sollte nicht das letzte Mal sein.
„Tante Agate“, sagte Ingrid eines Tages, „ich habe eine Strumpfhose bei Inge – bei Fräulein Skovsgaard vergessen. Ich brauche sie aber. Würde es passen, wenn ich heute hinginge?“
„Ich möchte wirklich mal wissen, wo du immer deine Gedanken hast“, entgegnete die Tante mürrisch. „Na schön, dann geh und holsie, aber du mußt zu Mittag wieder zu Hause sein.“
„Ja, aber wenn Fräulein Skovsgaard mich zum Mittagessen einlädt? Dann brauche ich heute nichts einzuholen, für einen langt nämlich der Labskaus von gestern noch.“ Es war das Gescheiteste, was Ingrid hätte sagen können.
„Na ja, meinetwegen, dann bleib.“
„Laß den Aufwasch ruhig stehen, Tante. Ich mach ihn, wenn ich nach Haus komme.“
„Ja, ja, ich hab auch wirklich anderes zu tun.“
Ingrid steckte eine Strumpfhose in ihre Schultertasche. Sie mußte doch damit nach Hause kommen, wenn sie deshalb losgegangen war. So hinterlistig war sie geworden, die ehrliche kleine Ingrid.
Das Herz klopfte ihr bis zum Halse, als sie in der Straßenbahn saß. Die gute umsichtige Inge hatte ihr noch ein Fahrscheinheft für die Straßenbahn zugesteckt und ihr genau erklärt, mit welcher Linie sie fahren sollte und wie weit. Wie Ingrid sich freute! Inge würde sie ganz sicher zum Mittagessen einladen. Und sie würde mit Dixi spielen und Inges neueste Arbeiten anschauen und würde plaudern und erzählen.
Sie konnte wieder sie selbst sein und brauchte gar keine Furcht mehr zu haben…
Dann stand sie vor der lieben, wohlbekannten Wohnungstür und klingelte. Sie horchte. Kein Dixi bellte drinnen. Keine raschen, fröhlichen Schritte kamen auf die Tür zu. Sie klingelte noch einmal. Alles blieb still.
Da fühlte sie wieder den Kloß im Hals. Die Enttäuschung war zu groß. Aber vielleicht kam Inge bald. Vielleicht war sie nur mit Dixi ein bißchen ausgegangen.
Ingrid setzte sich auf die Treppe und wartete.
Im Hause war es ganz still. Unten beim Pförtner ging eine Tür. Ingrid lauschte. Nein. Kein Tappen von eiligen Hundepfoten. Nichts von Inges vertrauten, leichten Schritten.
Die Minuten
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