Das kleine Reiseandenken
standen in schimmerndem, schwellendem Grün.
In Tante Agates Wohnung war die Hitze unerträglich. Ingrid lief mit schmerzendem Kopf und einem schweren Schnupfen herum.
Pünktlich um zwei Uhr stellte sich Inge ein. Ingrid schnaubte sich wohl zum dreißigstenmal an diesem Tag die Nase, strich das Haar glatt, nahm die Schürze ab und ging von dannen.
„Kind, du bist ja schrecklich erkältet!“
„Ja, ja – aber es wird schon vorübergehen!“
„Wo hast du dir das denn geholt? Hast du nasse Füße bekommen?“
„Ja, ich bin gestern naß geworden. Ich hatte so viel einzuholen.“
„Laß mal deine Schuhe sehen! Aber mein gutes Kind, hast du es deiner Tante nicht gesagt, daß du quer über der Sohle ein Loch hast?“
„Sie – sie findet immer alles zu teuer. Sie würde bloß schimpfen, wenn…“
„Jetzt hör mal zu, Ingrid. Es gibt wichtigere Dinge zu erledigen, als in den Zoo zu gehen. Wir müssen zunächst über alles reden. Jetzt fahren wir zu mir nach Haus. Dixi wird froh sein, daß er nicht den ganzen Nachmittag allein daheim hocken muß. Und dann müssen wir mal sehen, was da zu machen ist.“
Ingrid fühlte sich mit einemmal sehr erleichtert. Es war so schön, wenn Inge für sie dachte und handelte. Und es war ganz unwahrscheinlich schön, wieder im Atelier zu sein, das Summen des Teekessels zu hören und den Duft von Wecken und Marmelade zu schnuppern.
Inge suchte Chinintabletten heraus, von denen sie behauptete, daß sie gegen Erkältung Wunder wirkten. Sie gab Ingrid ein großes weißes Taschentuch, das sich ebensogut zum Weinen wie zum Naseschnauben eignete.
Für beides sollte es denn auch Verwendung finden. Inge ruhte nicht eher, als bis sie alles erfahren hatte, jedes kleinste bißchen über Ingrids Dasein. Von der düsteren, dumpfen Wohnung, von der Tante, die nur einen einzigen Gedanken kannte: sparen, sparen, sparen – von dem schrecklich trostlosen und ereignislosen Leben. Dabei hatte Tante Agate so nett geschrieben, wie angenehm es für Ingrid sein könnte, ein Jahr in Kopenhagen zu verleben. Aber war sie denn in Kopenhagen? Ebenso hätte ein Gefangener, der in einem Schloßverließ eingesperrt war, behaupten können, er wohne in einem Schloß…
„Inge – ich habe eine große Bitte. Darf ich mal bei dir baden?“
„Aber Kind, natürlich! Bade, soviel du willst. Soll ich dir nicht helfen und dein Haar waschen?“
„O Inge – wenn du das tun wolltest?“
„So, so, deine liebe Tante findet also, Waschen wäre ein Luxus?“ fragte Inge, während sie Ingrids dicke, goldene Mähne mit ihrem allerbesten Shampoo einrieb.
„Nein, aber sie sagt immer, ich müßte mit dem heißen Wassersparen. Und wir haben ja kein Badezimmer. Da muß ich mich dann in der Küche waschen. Ich habe immer Angst, daß die Tante reinkommt und sieht, wieviel heißes Wasser ich verbrauche…“
In Inges Bademantel gewickelt saß Ingrid auf der Couch, hielt Dixi auf dem Schoß, und erzählte. Sie fühlte sich sauber und frisch und warm; die Tablette hatte geholfen, das Kopfweh war weg. Sie kam sich vor wie ein neuer Mensch, während sie dasaß und wartete, daß ihre Haarmähne trocknen sollte.
Inge betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen.
Ingrid lachte. „Ich weiß, was du willst! Zeichne nur los!“
„Aha, so gut kennst du mich also schon?“
„Ich weiß genau, was los ist, wenn du so ein Gesicht machst! Dann juckt’s dir in den Fingern nach dem Bleistift!“
„Aber du weißt nicht, was ich jetzt zeichnen will.“
„Mich.“
„Ja, dich. Du kennst doch die kleine Seejungfrau? Paß mal gut auf. – Du verstehst mich immer, wenn ich zeichnen will. Sieh mal – stell dir doch die kleine Seejungfrau vor – gerade in diesem Augenblick…“
Inge holte ein Buch aus dem Bord, schlug es auf, suchte ein bißchen und las vor: „Da sah sie, daß ihr Fischschwanz fort war, und daß sie die niedlichsten kleinen weißen Beine hatte, die nur ein Mädchen haben kann; aber sie war ganz nackt, deshalb hüllte sie sich in ihr dichtes langes Haar ein.“
Ingrid nickte. Sie ließ den Bademantel von den Schultern gleiten, sie legte die blanken, goldenen Haarwellen wie einen Mantel um sich. Dann saß sie, das Profil halb Inge zugewandt, und starrte mit einem stillen, verwunderten Blick auf ihre eigenen Füße, die sie ein wenig vorgestreckt hatte.
Inge flüsterte nur: „Bleib einen Augenblick so, Ingrid. Rühr dich nicht. Genau so…“
Inge zeichnete. Sie zeichnete wie eine Rasende, holte kaum Luft,
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