Das kleine Reiseandenken
kann; du hast kein Geld für die Heimfahrt; du bist voll und ganz in den Händen dieser Frau. Wenn du wirklich zur Polizei gehen würdest, was dann? Glaubst du, du würdest weit damit kommen? Oh, keineswegs! Solange nicht grobe Mißhandlung nachzuweisen ist, kannst du auch dort keine Hilfe erwarten. Siehst du: Das alles hat sich Frau Jespersen sicher auch ausgerechnet. Sie wußte ganz genau, daß es sich lohnte, die Reise für dich zu bezahlen.“
Ingrid war unter der braunen Haut ganz blaß geworden.
„Inge – denk bloß, wenn ich dich nicht gehabt hätte! Denk bloß, wenn…“
„Ja, ich glaube wahrhaftig, der liebe Gott hat uns die durstigen Affchen in Flensburg über den Weg geschickt, denn ohne die hätten wir uns sicher nie kennengelernt…“
Ingrid blickte Inge nachdenklich an: „Wenn ich mal wieder Geld habe“, sagte sie feierlich, „dann kaufe ich eine Riesentüte mit Rosinen und Nüssen und lauter guten Dingen für die sechs Äffchen. Denn die haben es verdient!“
Zäher Kampf um Ingrid
Als Inge am nächsten Morgen aus dem Haus ging, um Agate Jespersen aufzusuchen, war sie nicht ganz so mutig, wie sie sich stellte. Es war immerhin eine schwierige Sache, einem Menschen kurzerhand zu eröffnen, daß man die Absicht habe, sein Pflegekind wegzunehmen und es unter keinen Umständen zurückzugeben. Es war so eine Sache, eine ganze Reihe von Vorwürfen zu erheben überDinge, die einen strenggenommen nicht unmittelbar betrafen. Aber dann dachte Inge an einen ihrer Wahlsprüche:
„Wenn ich sehe, daß es jemand schwer hat, dann betrifft es auch mich! Wenn es in meiner Macht steht, jemandem zu helfen, der der Hilfe bedarf, dann ist es meine Pflicht zu helfen!“
Unterwegs stellte sie ihren Schlachtplan auf. Sie wollte gar nicht von dem ausgehen, was Ingrid ihr erzählt, sondern nur von dem, was sie selbst gesehen hatte.
So fing Inge denn ganz einfach davon an, daß sie gesehen hätte, wie dünn und blaß Ingrid geworden war. Sie hätte ungepflegt gewirkt, und das erste, worum sie gebeten hätte, sei ein Bad gewesen. Man müßte ja blind sein, wenn man nicht sähe, daß das Kind sich unglücklich fühlte. Sie hätte rauhe, rissige Hände von all dem Geschirrwaschen und Scheuern bekommen, ihre Wangen wären hohl und die Haut welk aus Mangel an frischer Luft. Mit größter Selbstbeherrschung verzichtete Inge darauf, das zu erwähnen, was Ingrid ihr erzählt hatte. Dafür gab es keine Zeugen. Das könnte Agate Jespersen also glatt abstreiten.
„Das geht Sie alles überhaupt nichts an, Fräulein Skovsgaard!“ sagte Agate Jespersen. „Es ist mein Pflegekind und nicht das Ihre.“
„Aber sie ist meine gute Freundin und nicht Ihre“, sagte Inge schlagfertig. „Ich werde unter gar keinen Umständen tatenlos zusehen, wie ein Kind ausgenutzt wird.“
„Und ich lasse es mir unter gar keinen Umständen gefallen, daß mein Pflegekind mir so mir nichts dir nichts weggenommen wird. Ich werde mich an die Polizei wenden, wenn das Kind nicht noch heute zu mir zurückkommt.“
„Das Kind“, wiederholte Inge, „das Kind? Sie meinten doch wohl Ihre kostenlose Hausangestellte?“
„Fräulein Skovsgaard!“ rief Frau Jespersen, „Sie nehmen sich etwas zuviel heraus. Ich habe für Ingrid die Reise bezahlt, ich habe ihr Kost und Wohnung und Taschengeld gegeben, es handelt sich nicht um Ihr Pflegekind, sondern um meins…“
Inge öffnete den Mund, um eine heftige Antwort zu geben. Abersie besann sich, schluckte, räusperte sich ein paarmal, und als sie endlich sprach, war die Stimme ruhiger und gefaßter: „Hören Sie, Frau Jespersen. Sie wissen, daß ich nur das Wohl der kleinen Ingrid im Auge habe, und ich möchte meinen, Sie auch? Wäre es nicht besser, wenn Sie das täten, was für alle Teile das Richtigste wäre und auch das Einfachste: Zugeben, daß Sie sich nicht dazu eignen, ein Kind im Hause zu haben? Zugeben, daß Ihr ganzes Herz bei Ihrem Geschäft ist und nicht bei dem Kinde? Zugeben, daß es für Sie eine Erleichterung wäre, wenn Sie das kleine Ding loswürden, das von glühendem Heimweh erfüllt ist? Wenn Sie dies alles einsehen und zugeben, dann übernehme ich alles Übrige. Ich behalte Ingrid für den Rest dieses Jahres bei mir. Ich werde zur Ausländerpolizei gehen und die Angelegenheit regeln, dafür sorgen, daß das Kind auf mich überschrieben wird. Lassen Sie es uns so machen, Frau Jespersen, in aller Verträglichkeit!“
Die andere hörte zu, versuchte ein paarmal zu
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