Das kleine Reiseandenken
freundlichen Lächeln begegneten, dorthin, wo die Sonne schien und die Luft frisch und rein war, wo sie ihre eigene Sprache hören und sprechen konnte. Sie wollte nach Hause!
Bei einer Bank an einer Haltestelle blieb sie stehen und zählte ihr Geld. Die zwanzig Kronen von Inge – zwei Wochen Taschengeld von Tante Agate – wie weit sie damit wohl kommen würde? Sie fuhr für den halben Preis, und im Sommer gab es außerdem verbilligte Fahrkarten. In der Tasche trieb sich noch etwas loses Kupfergeld herum. Sie kratzte alles zusammen. Im hintersten Fach der Tasche, neben dem Paß, lag ein Zwanzigmarkschein. Den hatte Onkel Peter ihr geschenkt.
„Du brauchst doch Geld, wenn du einmal nach Deutschland zurückkommst“, hatte er gesagt.
Ingrid lief eine lange Strecke. Sie wollte die Straßenbahn sparen.
Das Fahrscheinheft war aufgebraucht, und sie wollte nicht einen Öre ausgeben, ehe sie nicht wußte, was die Fahrkarte kostete.
Dann kam sie zum Hauptbahnhof und studierte die Abfahrtszeiten der Züge. In einer halben Stunde ging ein Zug nach Korsör. Sie runzelte die Brauen und überlegte. Korsör – ja, dort mußte sie auf die Fähre umsteigen – und dann weiter bis Nyborg fahren. Wenn sie mit dem Zug bis Padborg kommen konnte, war es nicht mehr weit bis zur Grenze. Und über die Grenze kam sie ohne Schwierigkeiten, sie hatte ja einen gültigen Paß.
War sie aber erst in Deutschland, dann konnte sie sich leicht zurechtfinden. Da konnte sie doch jedenfalls die Sprache! Und da konnte sie vielleicht per Anhalter vorwärtskommen. Im übrigen brachten die zwanzig Mark sie eine ganze Strecke weiter.
Ob aber ihr Geld für eine Fahrkarte bis Padborg ausreichte?
Ingrid überlegte hin und her. Bis Nyborg schaffte sie es auf jeden Fall. Und vielleicht – da war so viel Verkehr, vielleicht konnte sie sich in einen Zug nach Padborg einschmuggeln. Oder vielleicht sogar in einen Nachtzug nach Deutschland. Sie konnte sich auf der Toilette verstecken, wenn der Schaffner kam – oder in einen anderen Wagen gehen. Oder sie konnte sagen, daß sie ihre Fahrkarte verloren hatte. Niemand würde sie unterwegs hinauswerfen. O ja, sie würde sich schon durchschlagen! Sie wollte um jeden Preis nach Hause. In ihr eigenes Land zurück, zu ihrer eigenen Sprache, zu Elke und Monika, Hans und Grete – nach Haus in ihr eigenes Bett, zu den Kaninchen, zu den Kühen – nach Hause!
Zu Hause – ach, es war ein Paradies, verglichen mit Tante Agates Welt!
Aber was würde Inge sagen?
Sie wollte Inge schreiben und ihr alles erklären. Inge würde sie verstehen. Daß sie aber Inge vielleicht nie mehr wiedersehen sollte, nie mehr Modell sitzen, nie mehr mit Dixi spielen – und daß sie nie auf die Herbstausstellung kommen und Inges Gemälde sehen sollte – bei diesem Gedanken war ihr nicht wohl.
Nein, nicht denken. Jetzt nicht mehr denken. Nur handeln. Einschlankes, sonnenverbranntes Mädchen mit langen blonden Haaren stand vor dem Fahrkartenschalter und verlangte in gebrochenem Dänisch eine Fahrkarte bis Nyborg.
Inges Telefon läutete.
„Hier ist Frau Jespersen. Wo in aller Welt bleibt Ingrid?“
„Ingrid? Aber, liebe Frau Jespersen, ich habe doch Ingrid selbst vor mehreren Stunden vor Ihrem Hause abgesetzt.“
„Na, das ist ja komisch. Bei mir hat sie sich nicht blicken lassen. Das Mädel ist unzuverlässig – sie kriegt das Fell versohlt, wenn sie nach Hause kommt. So was ist mir doch noch nicht vorgekommen. Ich hätte sie eben nie weglassen dürfen.“
Inge unterbrach sie, und jetzt klang ihre Stimme scharf. „Frau Jespersen, es ist jetzt nicht an der Zeit, zu schimpfen oder sich zu beschweren. Das Kind ist in einer großen Stadt verschwunden, ohne die Sprache ordentlich zu können. Wir müssen sofort etwas unternehmen. Ich glaube, ich weiß, was zu tun ist. Ich klingle Sie an, wenn ich etwas erfahren habe. Guten Abend.“
Inge läutete auf dem Hauptbahnhof an und erkundigte sich nach dem Zug nach Korsör und ob er unmittelbaren Anschluß an die Fähre habe.
Dann ließ sie sich die Telegrammaufnahme geben und schickte ein drahtloses Telegramm an den Kapitän der betreffenden Fähre.
Auf Deck der Fähre über den Großen Belt saß in einem geschützten Winkel ein schmales, schlankes, sonnenverbranntes Mädchen. Es hatte einen braunen Koffer neben sich stehen. Unter dem zu kurz gewordenen Mantel guckte ein geblümtes Sommerkleid heraus.
Ein uniformierter Mann mit einem Blatt Papier in der Hand kam über das Deck und sah sich
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