Das kleine Reiseandenken
suchend um. Sein Blick fiel auf das schmale Kind, das da in der Ecke saß und förmlich in sich zusammenkroch.
Er warf einen Blick auf das Papier, steuerte dann auf das Mädchen los und redete sie in fließendem Deutsch an: „Ingrid Schramm,nicht wahr? Komm doch mal mit zum Kapitän.“
Das Herz sank Ingrid bis in die Schuhe. Der Mann hatte mit fester Stimme, aber nicht unfreundlich gesprochen.
Was sollte sie aber wohl beim Kapitän? Und wie konnte dieser Mann wissen, wer sie war?
Er nahm den Koffer auf und sagte lächelnd: „Ich werde deinen Koffer nehmen. Den läßt man doch eine Dame nicht selber schleppen!“
Sein freundliches Lächeln und seine guten Augen trösteten Ingrid ein bißchen. Zaghaft folgte sie ihm.
Der Kapitän war ein älterer Mann. Er sah gar nicht böse aus. Er zupfte Ingrid scherzend am Ohrläppchen – und dann sagte er in einem guten, leichtverständlichen Deutsch: „Na, kleines Fräulein, du willst also wieder nach Haus? Nun ja, das ist zu verstehen, aberwäre es nicht richtiger gewesen, du hättest vorher Bescheid gesagt? Es tut mir leid, mein Kind, aber ich habe versprochen, dich gleich mit der nächsten Fähre wieder zurückzuschicken. Ich muß dir sogar Geld für die Fahrkarte Korsör – Kopenhagen geben. Außerdem will ich dein Ehrenwort haben, daß du wirklich zurückfährst.“ Ingrid stand in Glut getaucht.
„Wieso wissen Sie denn, daß…“
„Hast du schon mal was von drahtloser Telegrafie gehört? Siehst du, das ist eine ganz nützliche Erfindung – sehr nützlich, wenn junge Damen sich auf eigene Faust in die Welt hinausbegeben. Nun darfst du dich hierher setzen, dann habe ich dich doch unter meinen Augen. So, hier hast du ein paar deutsche illustrierte Zeitschriften, bitte sehr, und dann hast du vielleicht ein bißchen Hunger, was?“
Ingrids Unterlippe zitterte. Vor Scham, vor Angst, vor Reue – und vielleicht am meisten deshalb, weil der Kapitän so schrecklich nett gegen einen Ausreißer war…
Zwei Stunden später fuhr sie wieder zurück. Diesmal behandelte man sie nicht wie einen Ausreißer, denn sie hatte ihr Ehrenwort gegeben, zurückzufahren und nicht noch weitere dumme Streiche zu machen.
Du großer Gott, wie sie sich grauste!
Was würde Tante Agate sagen? Tante Agate hatte Geld für ein teures drahtloses Telegramm ausgeben müssen! Tante Agate hatte vergeblich gewartet. Ingrid wagte gar nicht an die Heimkehr zu denken. Ihr grauste, daß ihr ganz schwindlig davon wurde. Sie wußte, diesmal setzte es ernstlich Prügel – und ihr grauste vor dem Schmerz und der entsetzlichen Erniedrigung.
Und Inge?
Jetzt fiel es Ingrid ein, welche Unannehmlichkeiten sie Inge bereitet hatte. Inge war für sie verantwortlich gewesen, ihr würde die Schuld zugeschoben werden.
Daß Inge um ihretwillen Schimpfe und Ärger bekommen würde, war ihr noch schlimmer als der Gedanke an Tante Agate, an dieSchläge, an das Keifen.
Jetzt würde auch Inge kein Vertrauen mehr zu ihr haben. Jetzt war es vielleicht ganz aus mit den herrlichen Mittwochnachmittagen. Jetzt war sie ganz und gar auf Tante Agate angewiesen und nur auf sie allein.
Ingrid war so verzweifelt, daß sie nicht einmal weinen konnte.
Stumm und unglücklich saß sie in ihrer Ecke und sah Korsör auftauchen.
Sie griff nach ihrem Koffer und ging zur Landungsbrücke.
Mit einemmal sperrte sie die Augen weit auf. Hatte sie richtig gesehen? Dort unten stand ja – ach nein, sie träumte sicher. Sie sah Gespenster! Die Gestalt dort unten in dem blauen Leinenkostüm – ein lächelndes, ja, tatsächlich lächelndes Gesicht – zwei winkende Hände…
Ingrid stürzte die Schiffsbrücke hinunter, und gleich darauf hatte sie beide Arme um Inges Hals geschlungen: „Verzeih mir, Inge! Verzeih mir!“
Die Tränen strömten über Inges Schulter auf das blaue Kostüm. Eine Hand fuhr ihr immerfort über den Rücken, eine sanfte, gute Stimme sagte: „Mein armes kleines Mädchen!“
Ein paar Stunden später saßen sie an dem niedrigen Tisch im Atelier einander gegenüber. Der Tee in den blauen Tassen dampfte…
„Und jetzt erzählst du mir alles“, sagte Inge entschieden. „Jede kleinste Kleinigkeit.“
„Ja, Inge – aber du schickst mich doch nicht wieder zu Tante Agate zurück? Ich trau mich nicht – ich trau mich nicht…“
„Nein, Kind, du kommst nicht zurück. Du bleibst hier. Gott mag wissen, wie ich diese ganze Geschichte zurechtkriege – es wird nicht leicht sein. Aber zurück sollst du nicht. Geht es
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