Das kleine Reiseandenken
(Das Wort Premiere habe ich auch hier gelernt.) Sie hat mir ein hübsches Kleid geschenkt, das ihr zu eng geworden ist. Mein Glück! Denn zu einer Premiere muß man sich fein anziehen.
Wir sind auch zusammen in der Stadt gewesen, zum Einkaufen. Die Stadt macht mich ganz schwindelig! In einigen Straßen ist der Verkehr so dicht, daß man sie einfach nicht überqueren kann. Aber da sind Fußgänger-Unterführungen unter der Straße gebaut. Treppe runter, durch einen langen Gang, Treppe hoch, und dann ist man auf der anderen Straßenseite.
Ich habe „Ausgang“ jeden zweiten Sonntag und jeden Mittwoch nachmittag. Am kommenden Sonntag werde ich in den Zoo gehen. Da kann man ja auch allein rumwandern. Ich wünsche nur, daß ich eine Freundin hätte, eine, mit der ich meine freien Tage verbringen könnte. Nun ja, wer weiß, es kommt vielleicht noch. Also, es geht mir sehr gut, Inge und Jan sind reizend zu mir, und ich denke täglich an Deine klugen Worte, und lasse die beiden allein. – Hier wurde ich unterbrochen. Jan kam und sagte mir, daß in fünf Minuten eine schöne Fernsehsendung anfängt, ein Tierprogramm, das ich unbedingt sehen muß. Grüße alle – ich denke viel an Euch! Viele, viele liebe Grüße von Deiner
Ingrid
Die Tage flogen dahin. Wenn Ingrid Vollbeschäftigung hatte, lag es nicht ausschließlich an der Hausarbeit. Die war leicht zu bewältigen, und Inge nahm ihr auch viel ab. Zum Beispiel das langweilige Staubwischen, die Pflege der Zimmerpflanzen und andere zeitraubende Kleinarbeiten. Was Ingrids freie Stunden ganz und gar ausfüllte, war das Lesen. Sie durfte aus Jans großem Bücherregal alles herausholen, was sie wollte. „Wenn du bloß nicht die Bücher aus dem Haus bringst“, hatte Jan lächelnd gesagt. Sie las Romane, Biographien, und vor allem Dramatik. Wenn ein Schauspieltitel nur erwähnt wurde, suchte Ingrid sich das Buch heraus. Sie las und las. „Du hast anscheinend vor, Literaturhistoriker zu werden“, sagteInge schmunzelnd, als Ingrid sich wieder ein neues Buch holte.
„Vorläufig habe ich vor, noch etliche Löcher in meinem Wissen zu stopfen“, antwortete Ingrid. „Du ahnst nicht, wie furchtbar es ist, so unwissend zu sein!“
Inge sah sie einen Augenblick gedankenvoll an.
„Weißt du, Ingrid, das ist alles nur halb so schlimm. Wissen kann man sich immer aneignen. Die Hauptsache ist, daß das Gehirn imstande ist, das Gelesene und das Gelernte aufzunehmen. Daß man einen gewissen Grips hat. Und das hast du, Ingrid. Du hast alle Vorbedingungen, du brauchst nur zu lernen. Du warst ja mit die Beste in der Schule, erzählte deine Tante Margrete.“
„Nun ja – das war ich wohl.“
„Ich habe viel darüber nachgedacht, wie du weiterlernen könntest, Ingrid. Wenn es nun möglich wäre, einen Abendkurs zu besuchen, und vielleicht die mittlere Reife zu machen. Hättest du dazu Lust?“ Ingrids Augen strahlten.
„Und ob ich Lust hätte!“
„Weißt du, wenn du bei deinen Krankenpflegeplänen bleibst, hast du ja zwei Jahre zu überbrücken. Ich glaube, man muß achtzehn sein, um als Schwesternschülerin aufgenommen zu werden. Vielleicht könntest du bis dahin die mittlere Reife geschafft haben.“
„Ja, aber Inge, es ist ja nicht mit den Unterrichtsstunden getan. Ich müßte ja auch zu Hause lernen. Und was wäre dann mit meiner Arbeit hier?“
„Na, dann müßte ich selbst ein bißchen mehr tun, das ist klar. Weißt du was, ich werde mit Jan darüber sprechen. Ich schlage dir vor, daß du bis Anfang September wartest, dann fangen sicher neue Kurse an, und zu der Zeit werden wir einen Plan gemacht haben, das verspreche ich dir!“
„Ihr seid zu lieb zu mir, Inge.“
„Was du nicht sagst! Und was bist du zu uns? Du sollst etwas lernen, Ingridlein, etwas, worauf du deine Zukunft aufbauen kannst. Ich denke, daß ich mit meinem Sparschwein und dem guten Gehalt, das ihr mir zahlt, schon einen Abendkurs belegen kann.“
„Es war ja eigentlich meine Idee, so einen Kurs für dich zu bezahlen“, sagte Inge. „Aber wir bleiben dann dabei, Ingrid? Vorläufig machst du deine Kartoffelknödel und deine eingelegten Heringe für uns…“
„…und plätte eure Taschentücher und führe Dixi spazieren“, unterbrach Ingrid. „Und lese Jans Bücher abends. Himmel, ich muß ja raus mit Dixi, es ist höchste Zeit.“
„Hat er denn nicht heute mittag ,sowohl als auch’ gemacht?“ fragte Inge.
„Nur ,sowohl’! Jetzt ist bestimmt ,als auch’ fällig“, lächelte
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