Das Kloster der Ketzer
sollen. Aber als der Fremde das Schreiben im Haus der Felberstätts abgab, war mein Freund zufällig nicht im Haus. Seine Frau nahm das Schreiben entgegen, legte es in eine Schublade und vergaß es dann, als bei ihr kurz darauf die Nachricht eintraf, dass ihre Mutter schwer erkrankt sei und
ihres Beistandes bedürfe. In der Aufregung ihrer überstürzten Abreise nach Ingolstadt vergaß sie, ihrem Mann von dem Brief zu berichten. Das fiel ihr erst wieder ein, als sie zehn Tage später nach Hause zurückkehrte.« Er holte tief Luft. »So, und jetzt zu deinem Vater und warum sein Bruder versucht, dich in seine Gewalt zu bringen. Sei gefasst, dass ich dir über die Situation deines Vaters leider nichts Gutes mitzuteilen habe.«
Sebastian schluckte und wartete angespannt, was der Mönch ihm nun sagen würde.
»Dein Vater sitzt im Kerker der Festung Oberhaus! Sein eigener Bruder hat ihn heimlich verhaften und dort in einem der Verließe verschwinden lassen.«
»Allmächtiger!«, entfuhr es Sebastian. »Aber warum? Und wie konnte er ihn denn verhaften und einkerkern, wenn mein Vater doch Euren Worten zufolge schon seit vielen Jahren in Wittenberg lebt?«
»Tja, wäre dein Vater in Wittenberg geblieben, wäre ihm dieser Verrat seines Bruders sicherlich erspart geblieben«, sagte Bruder Scriptoris. »Aber er ist gut mit Leonhard Kaiser befreundet …«
»Dem Ketzer, dem jetzt der Prozess gemacht wird?«, fiel Sebastian ihm ins Wort.
»Ja, als dein Vater erfuhr, dass Leonhard Kaiser verhaftet worden war und sein eigener Bruder eine wichtige Rolle bei dessen Prozess spielen würde, hielt es ihn nicht länger in Wittenberg, was ein schwerwiegender Fehler gewesen ist und all das in Gang gesetzt hat, was dir seitdem widerfahren ist«, berichtete der Mönch. »Soviel ich dem anonymen Schreiben dieses... Kapuzenmanns entnehmen konnte, war er nämlich so naiv zu glauben, seinen Bruder beeinflussen zu können, von einer Anklage seines Freundes abzusehen. Sie hatten ein geheimes Treffen vor der Stadt ausgemacht. Doch dein Vater hat
nach so vielen Jahren der Trennung augenscheinlich nicht geahnt, zu welch einem Mann sein Bruder mittlerweile geworden war und dass Tassilo seiner Macht und seiner Karriere notfalls auch sein eigen Fleisch und Blut zu opfern bereit ist. Jedenfalls hat er ihn ohne jeden Skrupel in der Nacht ihres Treffens kurzerhand verhaften und auf die Festung bringen lassen. Denn als dein Vater sich damals Luther anschloss und für seinen Bruder zu einem Verräter und Ketzer wurde, hat Tassilo von Wittgenstein aus Angst, sein Aufstieg in höchste Kirchenämter könne durch den Makel eines Ketzers in der eigenen Familie ein jähes Ende finden, seinen Bruder kurzerhand für tot erklärt. Dabei kam es ihm sehr entgegen, dass sich dein Vater in seiner neuen Heimat nicht mehr von Wittgenstein nannte, sondern dort den bezeichnenden Namen Ekkehard von Neuleben annahm. Dass sein Bruder nun lebend in Passau auftauchte und sich gar noch zum Fürsprecher von Leonhard Kaiser machen wollte, hat Tassilo wohl in Angst um seine machtvolle Stellung versetzt.«
»Verdammt soll dieser gewissenlose Lump sein!«, fluchte Sebastian. »Er und Sulpicius sind offenbar von einem abscheulichen, verbrecherischen Schlag!«
»Ich denke, das trifft es recht gut«, pflichtete ihm der Mönch trocken bei.
»Aber wenn mein…« Sebastian unterbrach sich schnell, denn er wollte einem so skrupellosen Mann wie dem Domherrn nicht die familiäre Bezeichnung »Onkel« zubilligen. »... wenn Tassilo den Makel des ketzerischen Bruders so sehr fürchtet, warum hat er ihn dann erst auf die Festung gebracht, statt ihn gleich zu töten? Was bezweckt er damit?«
»Wenn ich die wenigen Hinweise, die ich in dem anonymen Schreiben dazu fand, richtig deute, will der Domherr deinen Vater dazu benutzen, dass Leonhard Kaiser seiner lutherischen
Überzeugungen abschwört«, erklärte Bruder Scriptoris. »Er verspricht sich davon einiges für seine Karriere. Denn es würde viel Aufsehen erregen, weit über Passau hinaus, unserem Herzog größte Genugtuung bereiten und Tassilo von Wittgenstein in das Licht eines überragenden Kirchemannes stellen, wenn es ihm gelänge, woran andere bislang gescheitert sind, nämlich einen bekannten Freund und Mitstreiter des verhassten Martin Luther dazu zu bringen, öffentlich dessen Lehren als ketzerische, vom Teufel eingeflüsterte Verirrungen zu brandmarken und reumütig wieder in den Schoß der römisch-katholischen Kirche
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